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In der Frühromantik war es ein dichtes Netz nicht gedanklicher Beziehungen allein, sondern persönlicher, das von den Naturwissenschaftlern sich zu den Dichtern hinüberspann. Verbindende Geister wie Windischmann, Ritter, Ennemoser und verbindende Vorstellungen wie die Brown'sche Reiztheorie, der Mesmerismus, die Chladni'schen Klangfiguren hielten das naturphilosophische Interesse auf beiden Seiten ununterbrochen wach. Je weiter aber das Jahrhundert vorrückte, desto mehr lockerten sich diese Beziehungen, um endlich in der Spätromantik den seltsamsten, gespanntesten Ausdruck in der Freundschaft zwischen Liebig und Platen zu finden. Das Kennzeichnende, von älteren Bindungen ähnlicher Art gänzlich sich Unterscheidende, ist die Ausschließlichkeit, mit der sie – von allen übrigen Verbindungen abgesondert – auf die beiden Partner allein gestellt ist: den neunzehnjährigen Studenten der Chemie und den sieben Jahre Älteren, der an der gleichen Universität Erlangen seinen orientalischen Interessen nachging. Die gemeinsame Studienzeit freilich war kurz; im Frühjahr des Jahres 1822 schon, das sie zueinander geführt hatte, mußte Liebig sich vor den Demagogenverfolgungen nach Paris in Sicherheit bringen. Das war der Beginn eines Briefwechsels, der ausgespannt über den drei Pfeilern der gemeinsam verlebten Monate, schwankend, vibrierend den Abgrund der Jahre, welche folgten, überbrückte. Unendlich schwierig ist Platen als Korrespondent gewesen: die Sonette, Ghaselen an Freunde, wie sie auch diesen Briefwechsel von Zeit zu Zeit unterbrechen, scheint er gewissermaßen zu verstecken oder zu erkaufen durch unablässige Vorwürfe, Ausfälle, Drohungen. Um so gewinnender das Entgegenkommen des geliebten und schönen Jüngeren, der in Platens Welt so weit eingeht, ihm als Naturforscher (könnte er sich zu solcher Tätigkeit entschließen) eine größere Zukunft als Goethen zu prophezeien oder auch, Platen zur Freude, seine Briefe mit arabischen Schriftzeichen zu signieren, wie diesen folgenden. Abgefaßt ist er zwei Monate vor der entscheidenden Wendung in Liebigs Leben, auf die er selber in seiner Widmung der »Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie« zurückweist. »Zu Ende der Sitzung vom 28. Juli 1823«, so wendet er sich an Alexander von Humboldt, »mit dem Zusammenpacken meiner Präparate beschäftigt, näherte sich mir aus der Reihe der Mitglieder der Akademie ein Mann und knüpfte mit mir eine Unterhaltung an; mit der gewinnendsten Freundlichkeit wußte er den Gegenstand meiner Studien und alle meine Beschäftigungen und Pläne von mir zu erfahren; wir trennten uns, ohne daß ich aus Unwissenheit und Scheu zu fragen wagte, wessen Güte an mir teilgenommen habe. Diese Unterhaltung ist der Grundstein meiner Zukunft gewesen, ich hatte den für meine wissenschaftlichen Zwecke mächtigsten und liebevollsten Freund und Gönner gewonnen.« Den Zeiten, in denen zwei große Deutsche in den Räumen einer französischen Akademie Bekanntschaft miteinander schließen konnten, ist Liebig auch weiterhin, zumal im Jahre 1870, treu geblieben, da er in einer Rede vor der Bayrischen Akademie der Wissenschaften dem Chauvinismus entgegengetreten ist. So repräsentierte er in der Frühzeit wie im Alter jene Forschergeneration, der Philosophie und Dichtung noch nicht ganz aus dem Blickkreis verschwunden waren, wenn sie auch nur mehr winkend und hinter Nebeln, wie im folgenden Briefe, herübergeistern.

Justus Liebig an August Graf von Platen

Paris, den 16. Mai 1823.

Liebster Freund!
Meinen letzten Brief hast Du jetzt sicher in Händen und erwartest mit diesem Brief mein Bild, das ich Dir zu senden versprach, es ist nicht meine Schuld, daß dieses nicht gleich geschieht, sondern die Schuld des Künstlers, der es bis jetzt noch nicht beendigt hat; allein soll mich dieses abhalten, mit Dir ein wenig zu plaudern?
Es ist eine ausgemachte Sache, daß die Witterung, die Temperatur und andern äußern Zufälligkeiten einen entschiedenen Einfluß auf das Denken, und deswegen auch auf das Briefschreiben haben; der Mensch unterliegt diesem Einflusse trotz seines gebietenden Ichs, er hat dieses mit dem hygrometrischen Herd gemein, das sich verlängern oder verkürzen muß, wenn Feuchtigkeit in seiner Umgebung sich befindet oder nicht. Sicher ist bei mir jetzt ein solches äußeres Agens im Spiel, das mir das Schreiben an Dich zum Bedürfnis macht, da ich mich ja im andern Falle mit dem Denken oder mit dem Gedanken an Dich hätte begnügen können, doch glaube deswegen noch nicht, daß vielleicht ein naher Komet Schuld daran sei, denn die Magnetnadel oscilliert noch wie zuvor, auch ist die Hitze nicht außerordentlicher als wie sie gewöhnlich um diese Zeit in dem Pariser Klima ist; Biot's Vorlesung über die Zerlegung und Klassifizierung der Töne kann dieses auch nicht hervorgebracht haben, und doch wünschte ich, daß ich die Harmonika spielen könnte, ich würde jetzt spielen, und Du würdest vielleicht die Töne hören, die Dir sagen könnten, wie sehr herzlich ich Dich liebe. Gay Lussac, der Entdecker der Gesetze, welchen die Gase unterworfen sind, hat in seinen Vorlesungen noch weniger Anlaß dazu gegeben, und doch wünschte ich ein Gas zu sein, das sich ins Unendliche ausdehnen könnte, ich würde mich im Augenblicke mit dem Endlichen begnügen, und würde mich nur bis Erlangen expandieren und Dich dorten als Atmosphäre umgeben, und gibt es Gase, die beim Atmen tödlich, andere, die liebliche Bilder erscheinen machen, so würde ich vielleicht ein Gas sein, das Dir Lust zum Briefschreiben und Freude und Lust am Leben erwecken könnte. Beutang kann mit seiner Mineralogie noch weniger dieses Bedürfnis hervorbringen, da er mir alle Hoffnung abschneidet, jemals den Stein der Weisen, (der sich als Stein doch in der Mineralogie finden müßte) zu erhalten, und doch wünschte ich ihn, weil er mich in den Stand setzen würde, Dich so glücklich als möglich zu machen, und mich fähig machen würde, mit Dir arabische und persische Rätsel zu lösen, was ich ohne diesen Wunderstein nie lernen werde. Ist es vielleicht la Place mit seiner Astronomie? Dieser kann es auch nicht sein, er zeigt mir bloß den Meridian, in welchem Du lebst, ohne mir Deine glücklichen Sterne zu zeigen. Ebensowenig können es Cuvier's Entdeckungen in der Natur sein, die mich zum Briefschreiben bewegten, denn der gute Mann hat trotz seinem Eifer noch nicht ein Tier, viel weniger einen Menschen finden können, der dem andern vollkommen gleich ist, er zeigt mir bloß, daß die Natur aus einer Leiter besteht, und läßt mich nur sehen, um wieviel Stufen ich noch unter Dir stehe. Oerstedt vielleicht, bei seinem Hiersein hat mit seinem Elektromagnetismus dieses Rätsel bewirkt? Allein auch dieser ist es nicht, denn er nimmt in seinem Galvanismus keine Pole an, und ich fühle wohl, daß wir zwei Pole sind, die in ihrem Wesen unendlich verschieden, allein auch eben dieser Verschiedenheit halber sich anziehen müssen, denn Gleichartiges stößt sich ab.
Du siehst liebster Platen, daß ich nichts finde, was mir dieses Geheimnis aufklären könnte, ich bitte Dich in Deinem nächsten Brief um den Schlüssel.

Dein Dich herzlich küssender
Liebig.