Als Einführung zu dem folgenden durch Dahlmanns besorgte Frage nach dem Fortgang des Deutschen Wörterbuches veranlaßten Briefe mögen einige Stellen aus der Einleitung dieses Werkes hier Platz finden: »Es galt, unseren Wortschatz zu heben, zu deuten und zu läutern, denn Sammlung ohne Verständnis läßt leer, unselbständige deutsche Etymologie vermag nichts, und wem lautere Schreibung ein Kleines ist, der kann auch in der Sprache das Große nicht lieben und erkennen. Hinter der Aufgabe bleibt aber das Gelingen, hinter dem Entwurf die Ausführung. Ich zimmere bei Wege / Des muß ich manegen Meister han. Dieser alte Spruch läßt empfinden, wie dem zumute sei, der ein Haus auf offener Straße auferrichtete, vor welchem die Leute stehn bleiben und es begaffen. Jener hat am Tor und dieser am Giebel etwas auszusetzen, der eine lobt die Zieraten, der andere den Anstrich. Ein Wörterbuch steht aber auf dem allgemeinen Heerweg der Sprache, wo sich die unendliche Menge des Volkes versammelt, das ihrer im ganzen, lange nicht im einzelnen kundig, sowohl Äußerungen des Beifalls und Lobes als auch des Tadels erschallen läßt.« »Längst entbehrt unsere Sprache ihren Dualis, dessen ich mich hier immer bedienen müßte, und den Pluralis fortzuführen, fällt mir zu lästig. Ich will das Viele, was ich alles zu sagen habe, und von dem auch meine eigensten, innersten Empfindungen beschwichtigt oder angefochten werden, frischweg in meinem Namen aussprechen; leicht wird, sobald er künftig das Wort ergreift und seine weichere Feder ansetzt, Wilhelm meinen ersten Bericht bestätigen und ergänzen. Hingegeben einer unablässigen Arbeit, die mich, je genauer ich sie kennen lerne, mit stärkerem Behagen erfüllt, warum sollte ich bergen, daß ich meinesteils entschieden sie von mir gewiesen hätte, wenn unangetastet ich an der Göttinger Stelle geblieben wäre? Im vorgerückten Alter fühle ich, daß die Faden meiner übrigen angefangenen oder mit mir umgetragenen Bücher, die ich jetzt noch in der Hand halte, darüber abbrechen. Wie wenn tagelang feine, dichte Flocken vom Himmel nieder fallen, bald die ganze Gegend in unermeßlichem Schnee zugedeckt liegt, werde ich von der Masse aus allen Ecken und Ritzen auf mich andringender Wörter gleichsam eingeschneit. Zuweilen möchte ich mich erheben und alles wieder abschütteln, aber die rechte Besinnung bleibt dann nicht aus. Es gälte doch für Torheit, geringeren Preisen obschon sehnsüchtig nachzuhängen und den großen Ertrag außer acht zu lassen.« Und endlich dieser Schluß, geschrieben zu einer Zeit, da Deutschland – ohne Kabel zwar, aber ohne seine Stimme fälschen zu müssen – über das Meer hin gesprochen hat: »Deutsche geliebte Landsleute, welches Reiches, welches Glaubens Ihr seiet, tretet ein in die Euch allen aufgetane Halle Eurer angestammten, uralten Sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, Eure Volkskraft und Dauer hängt in ihr. Noch reicht sie über den Rhein in das Elsaß bis nach Lothringen, über die Eider tief in Schleswigholstein, am Ostseegestade hin nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches Gebiet. Auch zu Euch, Ihr ausgewanderten Deutschen, über das salzige Meer gelangen wird das Buch und Euch wehmütige, liebliche Gedanken an die Heimatsprache eingeben oder befestigen, mit der ihr zugleich unsere und Eure Dichter hinüberzieht, wie die englischen und spanischen in Amerika ewig fortleben.
Berlin, 2. März 1854.
Jacob Grimm.«
Jacob Grimm an Friedrich Christoph Dahlmann
Lieber Dahlmann,
Ihre Schriftzüge, so selten sie mir zu Gesicht kommen, habe ich auf den ersten Blick erkannt, vielleicht ginge es Ihnen nicht so mit den meinen durch das viele Schreiben etwas verschrumpfenden und ungleichen.
Ich bin in den ersten drei Monaten fast immer krankhaft gewesen, als ein übler Grippeanfall endlich überwunden schien, folgte auf ihn der zweite, härtere, der Bedenken einflößen konnte und mich wenigstens so herunter brachte, daß ich mich schwer erhole, denn noch ist nicht alles damit vorüber. Wenn ich oft schlaflos zu Bette lag, fuhr mir auch das Wörterbuch durch den Sinn.
Sie ermahnen mich liebevoll und dringend zu eifrigerer Fortarbeit. Hirzels Briefe tropfen schon jahrelang anhaltend auf denselben Fleck, zwar mit feinster Schonung, doch so, daß, wie wenn Frauen schreiben, dasselbe Anliegen immer darin enthalten ist, und auch, falls ich sie nicht läse, ich doch wüßte, was darin steht.
Im Widerspruch mit diesen Stimmen und einer innern in mir selbst, mahnen mich alle übrigen, die hier in mein Ohr tönen, ab von angestrengter Arbeit, und haben, wie Sie sich denken können, am Arzt ihren Hinterhalt. Ich werde dadurch nicht stutzig noch unschlüssig, aber doch etwas gepeinigt.
Stellen wir uns das Bild des Wörterbuches einmal lebhaft vor. Ich habe in Zeit von drei Jahren für die Buchstaben A B C geliefert 2464 enggedruckte Spalten, welche in meinem Manuskript 4516 Quartseiten ausmachten. Hier will alles, jeder Buchstabe eigenhändig geschrieben sein, und fremde Hilfe ist unzulässig. Wilhelm wird in den drei darauf gefolgten Jahren das D, obschon er es dem Plan entgegen zu sehr ausführt, in 750 Spalten darstellen.
Die Buchstaben A B C D erreichen noch nicht ein Viertel des Ganzen. Es bleiben also, mild angeschlagen, noch gegen 13000 gedruckte Spalten oder nach Weise meines Manuskriptes 25000 Seiten zu schreiben. Fürwahr eine abschreckende Aussicht.
Ich dachte als Wilhelm in die Reihe trat, daß ich nun etwas aufatmen und an andere Arbeiten gehn könnte, die sich unterdessen getürmt hatten. Sobald Hirzel sah, daß Wilhelm langsamer schreitet und das Werk zurückblieb, begann er von mir zu begehren, ich solle, ohne das Ende von D abzuwarten, mit E beginnen, damit der Druck gleichzeitig geschehen könne. Buchhändlerisch betrachtet, war dies nicht unbillig, verdarb mir aber meine Ferien und störte meine Ruhe, denn bei dem Gedanken, alsbald wieder vortreten zu müssen, wies ich auch weit aussehende neue Arbeiten zurück und arbeitete mehr einzelnes aus.
Daß wir beide zugleich Wörterbuch arbeiten, hat auch äußerlich manches gegen sich. Die Menge von Büchern, die dabei gebraucht werden, müßten bald hier bald dort weggenommen werden. Da wir nicht in einer Stube sitzen, würde ein beständiges Laufen und Holen entspringen. Ich weiß nicht, ob Sie sich unsre Hauseinrichtung deutlich vorstellen. Fast alle Bücher sind an den Wänden meiner Stube aufgestellt und Wilhelm hat die größte Neigung, sie in seine Stube zu holen, wo er sie auf Tische legt, daß man sie schwer wieder findet. Trägt er sie aber an die alte Stelle, so ist ein unendliches Tür auf- und zuschlagen, das uns beiden lästig wird. Dies ist nur ein äußeres Hindernis, das aus dem Zusammenarbeiten hervorgeht, die inneren sind viel schwerer.
Sie wissen es, daß wir beide von Kindesbeinen an brüderlich zusammenleben und einer ungestörten Gemeinschaft pflegen. Alles was Wilhelm arbeitet, geschieht mit fleißiger Sorgfalt und Treue, allein er geht langsam zu Werke und tut seiner Natur keine Gewalt an. Ich habe mir oft im Herzen vorgeworfen, daß er durch mich eigentlich in grammatische Dinge getrieben worden ist, die seiner inneren Neigung fernliegen, er hätte sein Talent, ja alles, worin er mir überlegen ist, besser auf andern Feldern bewährt. Diese Wörterbucharbeit verursacht ihm zwar auch Freude, doch mehr Pein und Not, dabei fühlt er sich selbständig und vereinbart sich ungern da, wo die Ansichten abweichen. So kommt es denn, daß die Gleichartigkeit des Plans und der Ausführung leidet, was dem Werke schadet, wenn es auch einigen Lesern sogar angenehm erscheint. In seiner Ausarbeitung ist mir darum einiges nicht recht, so wie umgedreht an der meinen ihm einzelnes mißfallen mag. Ein solches Werk muß, wenn es gedeihen soll, in einer Hand liegen. Ich muß aber noch weiter ausholen.
Alle meine Arbeiten und Erfolge waren nie auf ein Wörterbuch hingerichtet und es tritt nachteilig dazwischen.
Ich empfinde weit mehr Lust, die Grammatik, der ich doch am Ende alles verdanke was ich erreichte, überhaupt zu vollenden, jetzt wächst sie über mich und ich muß sie unvollendet liegen lassen, vermag ihr nicht zu geben, was in meinen Kräften stände, wenn ich mich frei fühlte. Unterdessen auch haben sich manche andere und neue Gegenstände vor mir auf getan, deren Behandlung mir weit näher zu Herzen ginge als das Wörterbuch, sie könnte ich erreichen, während das Ende des Wörterbuches unnahbar steht. Hätte ich diese ganze schwierige Lage vorausgesehen, ich würde damals mit Händen und Füßen das Wörterbuch abgewehrt haben. Meine Besonderheit und Eigentümlichkeit leidet darunter Abbruch.
Doch ich weiß, wozu ich verbunden bin, und habe bereits vor acht Tagen nach Leipzig gemeldet, daß ich noch diesen Monat anfangen will, ich werde also den Hals wieder unter das Joch beugen und erwarten, was die Zukunft bringt und wie sie es für mich ausgleicht.
Nun haben Sie, lieber Freund, einen langen Brief, den zu durchlesen Ihnen schwer geworden sein wird, aber Sie sind Schuld daran und wollen es so, weil Sie herzlich in mich drangen. Mich freut zu hören, daß jetzt drei Mädchen, in Lessings Sprache drei Frauenzimmerchen, in Ihrem Hause sind, wodurch Sie aufgeheitert werden. Ich bleibe Ihr treuer Freund.
Berlin, 14. April 1858.
Jacob Grimm.