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Das ist der Brief einer Zweiundzwanzigjährigen und, erst an zweiter Stelle sei es gesagt, ein Brief der Annette von Droste- Hülshoff. Die Botschaft aus dem Dasein einer jungen Frau, die frei von allem Überschwange des Gefühls mit Entschiedenheit, fast mit Strenge ausspricht, was mangels gleichen Sprachvermögens stets unbestimmt und weich erscheinen muß, ist kostbarer als die Nachricht aus dem Leben der Dichterin. Dieser Brief ist einzig auch unter den Schätzen der großen Korrespondentin, die Annette von Droste war. Wovon er redet, das sind Dinge, die jedem naherücken, der einmal in späten Jahren ohne Vorbereitung auf einen Schmuck, auf einen Erker, auf ein Buch, auf irgend etwas Unverändertes, das ihm als Kind vertraut war, gestoßen ist. Und von neuem wird er die Sehnsucht nach dem Vergessenen spüren, das da Tag und Nacht in ihm bereit liegt, Sehnsucht, die weniger ein Zurückrufen jener Kinderstunden als ein Echo von ihnen ist. Denn sie war ja der Stoff, aus dem sie gemacht waren. – Dieser Brief ist aber auch der Vorläufer einer Poesie »voll körniger Dinglichkeit und voll wohligen oder muffeligen Geruchs aus alten Schubladen«. Weniges bezeichnet sie in ihrer Eigenart so wie ein kleiner Vorfall, der sich in späten Jahren beim Grafen Thurn auf Schloß Berg zutrug. Da wollte man der Dichterin eine Freude mit dem Geschenk eines elfenbeinernen Kästchens machen, das man sorgfältig von allerlei Kram leerte, um es dem Gast sodann, nachdem man seinen Deckel wieder zugeschlagen, zu überreichen. Die Beschenkte, ungeduldig, es von neuem offen zu sehen, ungeschickt, es zu öffnen, preßte es zwischen ihren Händen; da sprang – kaum daß sie es berührt hatte – ein geheimes Fach, von dem niemand all die Jahrzehnte, da das Kästchen in der Familie gewesen war, je gewußt hatte, mit einem Mal auf und zum Vorschein kamen zwei zauberische alte Miniaturbilder. Denn Annette von Droste war eine Sammlernatur, eine seltsame freilich, in deren Stube neben Steinen und Broschen noch Wolken und Vogelschreie ihren Platz fanden, und in der darum das Magische und das Spinöse dieser Leidenschaft mit unerhörter Heftigkeit sich durchdringen. »Sie ist«, hat Gundolf mit tiefem Blick für das Verhexte und Gesegnete dieser westfälischen Jungfer gesagt, »eine innere Zeitgenössin der Roswitha von Gandersheim und der Gräfin Ida Hahn-Hahn.« – Der Brief ist vermutlich nach Breslau gegangen, wo Anton Matthias Sprickmann – ehemals Poet im Kreise des Hainbunds, dann Professor in Münster und Mentor des jungen Mädchens – seit 1814 lebte.

Annette von Droste-Hülshoff an Anton Matthias Sprickmann

Hülshoff, 8.2.1819.

O mein Sprickmann, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, um Ihnen nicht lächerlich zu erscheinen; denn lächerlich ist das, was ich Ihnen sagen will, wirklich, darüber kann ich mich selber nicht täuschen. Ich muß mich einer dummen und seltsamen Schwäche vor Ihnen anklagen, die mir wirklich manche Stunde verbittert; aber lachen Sie nicht, ich bitte Sie; nein, nein, Sprickmann, es ist wirklich kein Spaß. Sie wissen, daß ich eigentlich keine Törin bin; ich habe mein wunderliches, verrücktes Unglück nicht aus Büchern und Romanen geholt, wie ein jeder glauben würde. Aber niemand weiß es, Sie wissen es ganz allein, und es ist durch keine äußeren Umstände in mich hineingebracht, es hat immer in mir gelegen. Wie ich noch ganz klein war (ich war gewiß erst vier oder fünf Jahr'; denn ich hatte einen Traum, worin ich sieben Jahr' zu sein meinte und mir wie eine große Person vorkam), da kam es mir vor, als ging ich mit meinen Eltern, Geschwistern und zwei Bekannten spazieren, in einem Garten, der gar nicht schön war, sondern nur ein Gemüsegarten mit einer geraden Allee mitten durch, in der wir immer hinaufgingen. Nachher wurde es wie ein Wald, aber die Allee mitten durch blieb, und wir gingen immer voran. Das war der ganze Traum, und doch war ich den ganzen folgenden Tag hindurch traurig und weinte, daß ich nicht in der Allee war und auch nie hineinkommen konnte. Ebenso erinnere ich mich, daß, wie meine Mutter uns eines Tages viel von ihrem Geburtsorte und den Bergen und den uns damals noch unbekannten Großeltern erzählte, ich eine solche Sehnsucht danach fühlte, daß, wie sie einige Tage nachher zufällig bei Tische ihre Eltern nannte, ich in ein heftiges Schluchzen ausbrach, so daß ich mußte fortgebracht werden; dies war auch vor meinem siebenten Jahr; denn als ich sieben Jahre alt war, lernte ich meine Großeltern kennen. Ich schreibe Ihnen diese unbedeutenden Dinge nur, um Sie zu überzeugen, daß dieser unglückselige Hang zu allen Orten, wo ich nicht bin, und allen Dingen, die ich nicht habe, durchaus in mir selbst liegt und durch keine äußeren Dinge hineingebracht ist; auf diese Weise werde ich Ihnen nicht ganz so lächerlich scheinen, mein lieber, nachsichtsvoller Freund. Ich denke, eine Narrheit, die uns der liebe Gott aufgelegt hat, ist doch immer nicht so schlimm wie eine, die wir uns selbst zugezogen haben. Seit einigen Jahren hat dieser Zustand aber so zugenommen, daß ich es wirklich für eine große Plage rechnen kann. Ein einziges Wort ist hinreichend, mich den ganzen Tag zu verstimmen, und leider hat meine Phantasie soviel Steckenpferde, daß eigentlich kein Tag hingeht, ohne daß eines von ihnen auf eine schmerzlich süße Weise aufgeregt würde. Ach mein lieber, lieber Vater, das Herz wird mir so leicht, wie ich an Sie schreibe und denke, haben Sie Geduld und lassen Sie mich mein törichtes Herz ganz vor Ihnen aufdecken, eher wird mir nicht wohl. Entfernte Länder, große interessante Menschen, von denen ich habe reden hören, entfernte Kunstwerke und dergleichen mehr, haben alle diese traurige Gewalt über mich. Ich bin keinen Augenblick mit meinen Gedanken zu Hause, wo es mir doch so sehr wohl geht; und selbst wenn tagelang das Gespräch auf keinen von diesen Gegenständen fällt, seh' ich sie in jedem Augenblick, wo ich nicht gezwungen bin, meine Aufmerksamkeit angestrengt auf etwas anderes zu richten, vor mir vorüberziehen, und oft mit so lebhaften an Wirklichkeit grenzenden Farben und Gestalten, daß mir für meinen armen Verstand bange wird. Ein Zeitungsartikel, ein noch so schlecht geschriebenes Buch, was von diesen Dingen handelt, ist imstande, mir die Tränen in die Augen zu treiben; und weiß gar jemand aus der Erfahrung zu erzählen, hat er diese Länder bereist, diese Kunstwerke gesehen, diese Menschen gekannt, an denen mein Verlangen hängt, und weiß er gar auf eine angenehme und begeisterte Art davon zu reden, o! mein Freund, dann ist meine Ruhe und mein Gleichgewicht immer auf längere Zeit zerstört, ich kann dann mehrere Wochen an gar nichts mehr anderes denken, und wenn ich allein bin, besonders des Nachts, wo ich immer einige Stunden wach bin, so kann ich weinen wie ein Kind und dabei glühen und rasen, wie es kaum für einen unglücklich Liebenden passen würde. Meine Lieblingsgegenden sind Spanien, Italien, China, Amerika, Afrika, dahingegen die Schweiz und Otaheite, diese Paradiese, auf mich wenig Eindruck machen. Warum? das weiß ich nicht; ich habe doch davon viel gelesen und viel erzählen hören, aber sie wohnen nun mal nicht so lebendig in mir. Wenn ich Ihnen nun sage, daß ich mich oft sogar nach Schauspielen sehne, die ich habe aufführen sehen, und oft nach eben denjenigen, wobei ich mich am meisten gelangweilt habe, nach Büchern, die ich früherhin gelesen und die mir oft gar nicht gefallen haben. So habe ich z.B. in meinem vierzehnten Jahre einen schlechten Roman gelesen, den Titel weiß ich nicht mehr, aber es kam von einem Turme darin vor, worüber ein Strom stürzt, und vorn am Titelblatt war besagter abenteuerlicher Turm in Kupfer gestochen; das Buch hatte ich längst vergessen, aber seit längerer Zeit arbeitet es sich aus meinem Gedächtnis hervor, und nicht die Geschichte, noch etwa die Zeit, in der ich es las, sondern wirklich und ernsthaft das schäbige verzeichnete Kupfer, worauf nichts zu sehen ist wie der Turm, wird mir zu einem wunderlichen Zauberbild, und ich sehne mich oft recht lebhaft danach, es einmal wiederzusehen: wenn das nicht Tollheit ist, so gibt's doch keine, da ich zudem das Reisen doch gar nicht vertrage, da ich mich, wenn ich einmal eine Woche von Hause bin, ebenso ungestüm dahin zurücksehne, und da auch wirklich dort alles meinen Wünschen zuvorkommt. Sagen Sie! was soll ich von mir selbst denken? und was soll ich anfangen, um meinen Unsinn los zu werden? Mein Sprickmann, ich fürchtete meine eigene Weichheit, wie ich anfing, Ihnen meine Schwäche zu zeigen, und statt dessen bin ich über dem Schreiben ganz mutig geworden; mich dünkt, heute wollte ich meinen Feind wohl bestehen, wenn er auch einen Anfall wagen sollte. Sie können auch nicht denken, wie glücklich übrigens meine äußere Lage jetzt ist; ich besitze die Liebe meiner Eltern, Geschwister und Verwandten in einem Grade, den ich nicht verdiene, ich werde, besonders seit ich vor dreieinhalb Jahren so krank war, mit einer Zärtlichkeit und Nachsicht behandelt, daß ich wohl eigensinnig und verwöhnt werden könnte, wenn ich mich nicht selbst davor fürchtete und sorgfältig hütete. Wir haben jetzt eine Schwester meiner Mutter Ludowine bei uns, ein gutes, stilles, verständiges Mädchen, deren Umgang mir sehr wert ist, besonders wegen ihrer klaren und richtigen Ansicht der Dinge, womit sie oft, ohne es zu ahnden, meinen armen verwirrten Kopf wieder zu Verstande bringt. Werner Haxthausen lebt in Köln, und mein ältester Bruder, Werner, kommt in einigen Wochen zu ihm. Leben Sie wohl und vergessen Sie nicht, wie begierig ich auf Antwort warte.

Ihre Nette.