Den folgenden Brief hat der 75jährige Zelter an den 78jährigen Goethe gerichtet, ehe er nach seiner Ankunft in Weimar dessen Schwelle betrat. Es ist oft bemerkt worden, daß in unserer Literatur Glanz und Ruhm am meisten den Jünglingen, den Beginnenden und noch mehr den Frühvollendeten anhaften. Wie selten die Erscheinung des Männlichen in ihr ist, bekräftigt jede neue Beschäftigung mit Lessing. Vollends aus dem bekannten Raum der deutschen Bildungswelt ragt die Freundschaft heraus, in welcher zwei Greise in einem geradezu chinesischen Bewußtsein von der Würde des Alters und seiner Wünschbarkeit die Neige ihrer Lebenstage einander mit den erstaunlichen Trinksprüchen zubringen, die wir in Goethes Briefwechsel mit Zelter besitzen und von denen der folgende der vollkommenste sein dürfte.
Karl Friedrich Zelter an Goethe
Du bist im Mutterleibe der Natur so hübsch zu Hause und ich höre Dich so gerne reden von Urkräften, die von Geschlechtern der Menschen ungesehn durch das Universum wirken, daß ich ein Gleiches ahnde, ja Dich im Tiefsten zu verstehen meine und doch zu alt und viel zu weit zurück bin, um ein Studium der Natur anzufangen.
Komme ich nun auf einsamen Reisen über Höhen, Bergspitzen, durch Schluchten und Thäler, so werden mir Deine Worte zu Gedanken, die ich mein nennen möchte. Aber es fehlt an allen Orten und nur mein eigenes kleines Talent kann mich retten, daß ich nicht versinke.
Da wir doch nun einmal zusammen sind wie wir sind, so dächte ich, Du ließest Dich herab, da ich Dich so gern verstehe, mir meinen Grundstein zu legen um mein innerstes Sehnen zu festen: wie Kunst und Natur, Geist und Körper überall zusammenhangen, ihre Trennung aber – Tod ist.
So habe ich auch diesmal wieder, indem ich wie ein Zwirnfaden das Thüringische Gebirge von Coburg bis hieher durchzogen bin, schmerzhaft an den Werther gedacht: daß ich nicht überall mit Fingern der Gedanken was unter und neben mir ist, befühlen, beschauen kann; was mir aber so natürlich vorkommt als Körper und Seele Ein Wesen sind.
Freilich hat es unserer vieljährigen Correspondenz nicht an Materie gefehlt; Du hast so redlich Theil genommen an meinem Stückwissen in musikalischen Dingen, wo wir Andern freilich noch immer umherschwanken; – wer hätte es uns denn sagen sollen? Aber ich möchte doch auch nicht gar zu bettelhaft gegen Andere vor Dir erscheinen. Nenne es Stolz – dieser Stolz wäre meine Lust. Von Jugend an habe mich hingezogen, hingezwungen gefühlt zu denen die mehr, die das Beste wissen und muthig, ja lustig mich bekämpft und ertragen, was mir an ihnen mißfiel – ich wußte wohl was ich wollte, wenn ich auch nicht weiß, was ich erfuhr. Du warst der Einzige, der mich trug und trägt, ich könnte von mir selber lassen, nur nicht von Dir.
Sage mir, zu welcher Stunde ich zu Dir komme; ich erwarte vorher unsern Doctor, weiß aber nicht, wann er kommen kann.
Weimar, Dienstag den 16. Octbr. 1827.
Z.