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[Alte und neue ›Tragödie‹]

Schopenhauer hat die Tragödie als Trauerspiel aufgefaßt; unter den großen deutschen Metaphysikern nach Fichte ist wohl kaum einer, dem so wie ihm der Blick für das griechische Drama gefehlt hätte. Er hat denn auch im modernen die höhere Stufe gesehen und in dieser Konfrontation, so unzulänglich sie ist, den Ort des Problems zumindest bezeichnet. »Was allem Tragischen, in welcher Gestalt es auch auftrete, den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehen der Erkenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin. Ich räume ein, daß im Trauerspiel der Alten dieser Geist der Resignation selten direkt hervortritt und ausgesprochen wird ... Wie der Stoische Gleichmuth von der Christlichen Resignation sich von Grund aus dadurch unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich nothwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben des Wollens; eben so zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unausweichbaren Schläge des Schicksals, das Christliche Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen der Welt, im Bewußtseyn ihrer Werthlosigkeit und Nichtigkeit. — Aber ich bin auch ganz der Meinung, daß das Trauerspiel der Neuern höher steht, als das der Alten.«1 Man hat gegen diese unscharfe, in geschichtsfremder Metaphysik befangene Abschätzung einige Sätze von Rosenzweig zu halten, um des Fortschritts inne zu werden, den die philosophische Geschichte des Dramas mit den Entdeckungen dieses Denkers gemacht hat. »Dies ist ein innerster Unterschied der neuen Tragödie von der alten ... ihre Gestalten sind alle untereinander verschieden, verschieden, wie es jede Persönlichkeit von der andern ist ... Das war in der antiken Tragödie anders; hier waren nur die Handlungen verschieden, der Held aber war als tragischer Held immer der gleiche, immer das gleiche trotzig in sich vergrabene Selbst. Dem also notwendig beschränkten Bewußtsein des neueren Helden läuft die Forderung, daß er überhaupt wesentlich, nämlich wenn er mit sich allein ist, bewußt sei, zuwider. Bewußtsein will immer klar sein; beschränktes Bewußtsein ist unvollkommenes ... Und so treibt die neuere Tragödie nach einem Ziel, das der antiken ganz fremd ist, nach der Tragödie des absoluten Menschen in seinem Verhältnis zum absoluten Gegenstand ... Das kaum gewußte Ziel ... ist dies: an Stelle der unübersehbaren Vielheit der Charaktere den einen absoluten Charakter zu setzen, einen modernen Helden, der ebenso ein einer und immergleicher ist wie der antike. Dieser Konvergenzpunkt, in dem sich die Linien aller tragischen Charaktere schneiden würden, dieser absolute Mensch ... ist kein andrer als der Heilige. Die Heiligentragödie ist die geheime Sehnsucht des Tragikers ... Einerlei ob ... dies Ziel für den tragischen Dichter noch ein erreichbares Ziel sei oder nicht, jedenfalls ist es, auch wenn für die Tragödie als Kunstwerk unerreichbar, für das moderne Bewußtsein das genaue Gegenstück zum Helden des antiken.«2 Die »neuere Tragödie«, deren Deduktion aus der antiken in diesen Sätzen versucht ist, heißt, wie kaum bemerkt zu werden braucht, mit dem nichts weniger als bedeutungslosen Namen »Trauerspiel«. Unter dieser Benennung rücken die Gedanken, mit denen die angezogene Stelle schließt, aus der hypothetischen Gestalt der Frage heraus. Das Trauerspiel ist als Form der Heiligentragödie durch das Märtyrerdrama beglaubigt. Und wofern nur der Blick deren Züge unter mannigfaltigen Arten des Dramas von Calderon bis Strindberg zu erkennen sich schult, wird die noch offene Zukunft dieser Form, einer Form des Mysteriums, ihm evident werden müssen.



  1. Schopenhauer: Sämtliche Werke. 2, l.c. [S. 84]. S. 509 f.
  2. Rosenzweig l.c. [S. 111]. S. 268 f.