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[Hamlet]

Mit der charakteristischen Haltung gegenreformatischer Reaktion folgt die Typenbildung im deutschen Trauerspiele überall dem mittelalterlichen Schulbild der Melancholie. Doch die von dieser Typik grundverschiedene Gesamtform dieses Dramas: Stil und Sprache,1 ist nicht zu denken ohne jene kühne Wendung, mit der die Renaissancespekulationen in den Zügen der weinenden Betrachtung2 den Widerschein eines fernen Lichtes gewahrten, das aus dem Grunde der Versenkung ihr entgegenschimmerte. Einmal zumindest ist dem Zeitalter gelungen, die menschliche Gestalt zu beschwören, die dem Zwiespalt neuantiker und mediävaler Beleuchtung entsprach, in welchem das Barock den Melancholiker gesehen hat. Aber nicht Deutschland hat das vermocht. Es ist der Hamlet. Das Geheimnis seiner Person ist beschlossen im spielerischen eben dadurch aber gemessenen Durchgang durch alle Stationen dieses intentionalen Raums, wie das Geheimnis seines Schicksals beschlossen ist in einem Geschehen, das diesem seinem Blick ganz homogen ist. Hamlet allein ist für das Trauerspiel Zuschauer von Gottes Gnaden; aber nicht was sie ihm spielen, sondern einzig und allein sein eigenes Schicksal kann ihm genügen. Sein Leben, als vorbildlich seiner Trauer dargeliehener Gegenstand, weist vor dem Erlöschen auf die christliche Vorsehung, in deren Schoß seine traurigen Bilder sich in seliges Dasein verkehren. Nur in einem Leben von der Art dieses fürstlichen löst Melancholie, indem sie sich begegnet, sich ein. Der Rest ist Schweigen. Denn alles nicht Gelebte verfällt unrettbar in diesem Raume, in dem das Wort der Weisheit nur trügerisch geistert. Shakespeare allein vermochte aus der barocken, unstoischen wie unchristlichen, pseudoantiken wie pseudopietistischen Starre des Melancholikers den christlichen Funken zu schlagen. Wenn anders der Tiefblick, mit dem Rochus von Liliencron Saturnkindschaft und Male der Acedia in Hamlets Zügen las,3 um seinen besten Gegenstand nicht betrogen sein soll, wird er in diesem Drama das einzigartige Schauspiel ihrer Überwindung im christlichen Geiste erblicken. Nur in diesem Prinzen kommt die melancholische Versenkung zur Christlichkeit. Das deutsche Trauerspiel hat sich nie zu beseelen, den Silberblick der Selbstbesinnung in seinem Inneren nie zu erwecken vermocht. Es ist sich selbst erstaunlich dunkel geblieben und hat den Melancholiker nur mit den grellen und verbrauchten Farben der mittelalterlichen Komplexionenbücher zu malen gewußt. Warum also dieser Exkurs? Die Bilder und Figuren, die es stellt, widmet es dem Dürerschen Genius der geflügelten Melancholie. Seine rohe Bühne beginnt vor ihm ihr inniges Leben.



  1. [So H und J; dagegen a: »Spiel und Sprache«. Der Herausgeber hält die Lesart von a für einen Setzfehler, ohne doch die Möglichkeit ganz ausschließen zu wollen, daß das Motiv des Spielerischen im Hamlet — welches jedenfalls in der Fassung H erst an etwas späterer Stelle sich findet — die Änderung motivieren könnte.]
  2. Cf. Boll l.c. [S. 167]. S. 37.
  3. Cf. Rochus Freiherr von Liliencron: Wie man in Amwald Musik macht. Die siebente Todsünde. Zwei Novellen. Leipzig 1903.