[Unterschätzung des Märtyrerdramas]
Während unter dem Terminus des Tyrannendramas auch angesichts seiner extremsten Gestaltungen niemals die theoretische Debatte ist eröffnet worden, gehört die Diskussion der Märtyrertragödie wie bekannt zum eisernen Bestande der deutschen Dramaturgie. Alle Bedenken, die aus dem Aristoteles, aus der verpönten Scheußlichkeit der Fabel und nicht zuletzt aus sprachlichen Motiven gegen die Trauerspiele des Jahrhunderts gang und gäbe waren, verblassen vor der Süffisanz mit der seit hundertfünfzig Jahren die Autoren in dem Begriff der Märtyrertragödie sie verwerfen. Nicht in der Sache, in der Lessingschen Autorität wird man den Grund dieser Einhelligkeit zu suchen haben.1 Bedenkt man die Beharrlichkeit, mit der Literaturgeschichten seit jeher die kritische Erörterung der Werke an längst verflossene Kontroversen binden, so kann die Geltung Lessings nicht verwundern. Und eine psychologische Betrachtungsweise, die nicht von der Sache selbst, sondern von ihrer Wirkung auf den zeitgenössischen Normalbürger ausgeht, dessen Verhältnis zu Bühne und Publikum bis auf die Rudimente einer gewissen Aktionslüsternheit erstorben ist, konnte da keine Korrektur vollziehen. Denn der ärmliche Affektrest der Spannung, der diesem Typus als einzige Evidenz von Theatralischem geblieben ist, kommt in der Vorführung der Märtyrergeschichte nicht auf seine Kosten. Seine Enttäuschung hat sodann die Sprache des gelehrten Protestes angenommen und mit der Feststellung des Mangels innerer Konflikte, der Abwesenheit des tragischen Verschuldens den Wert dieser Dramen endgültig zu fixieren geglaubt. Hinzu kommt die Bewertung der Intrige. Vom sogenannten Gegenspiel der klassischen Tragödie ist sie durch Isolierung der Motive, Szenen, Typen unterschieden. So wie Tyrannen, Teufel oder Juden sich auf der Bühne des Passionstheaters in abgrundtiefer Grausamkeit und Bosheit zeigen, ohne irgendwie sich aufklären oder entwickeln, ohne anderes als ihre niederträchtigen Pläne bekennen zu dürfen, liebt auch das Drama des Barock den Gegenspielern in grelles Licht gestellte Sonderszenen einzuräumen, in denen Motivierung die geringste Rolle zu spielen pflegt. Die barocke Intrige vollzieht sich, man darf es sagen, wie ein Dekorationswechsel auf offener Bühne, so wenig ist die Illusion in ihr gemeint, so aufdringlich die Ökonomie dieser Gegenhandlung betont. Nichts instruktiver als die Unbefangenheit, mit der entscheidende Motive der Intrige sich ihren Platz in Noten suchen müssen. Da räumt Herodes im Mariamne-Drama Hallmanns ein: »Wahr ists: Wir hatten ihm/ die Fürstin zu entleiben/ | Im Fall uns ja Anton möcht' unverseh'ns auffreiben/ | Höchstheimlich anbefohl'n.«2 Und in der Anmerkung wird mitgeteilt: »Nehmlich aus allzugrosser Liebe gegen sie/ damit sie keinem nach seinem Tode zu theil würde.«3 Heranzuziehn — wenn nicht als Beispiel der gelockerten Intrige, so doch der unbekümmerten Komposition — wäre auch der ›Leo Armenius‹. Die Kaiserin Theodosia selbst bewegt den Fürsten zur Verschiebung der Exekution an Baibus dem Aufrührer, die da zum Tode des Kaisers Leo führt. In ihrer langen Klage um den Gatten gedenkt sie doch mit keinem Worte ihres Einspruchs. Ein schlagendes Motiv bleibt außer acht. — Die »Einheit« einer schlechtweg historischen Handlung zwang das Drama in einen eindeutigen Verlauf, und gefährdete es. Denn so sicher ein solcher Verlauf aller pragmatischen Geschichtsdarstellung zugrunde zu legen ist, so gewiß beansprucht die Dramatik von Natur Geschlossenheit, um die Totalität, die allem äußeren Zeitverlauf versagt ist, zu gewinnen. Die Nebenhandlung, sei es parallel, sei's im Kontraste zum Hauptvorgang, garantiert ihr dies. Allein nur Lohenstein beliebt sie öfter; sonst schloß man sie aus und meinte um so sicherer, Geschichte schlecht und recht zur Schau zu stellen. Die nürnberger Schule lehrt es bieder, die Schauspiele seien Trauerspiele deshalb genannt worden, »weil vorzeiten in der Heidenschaft meistteils Tyrannen das Regiment geführet/ und darum gewönlich auch ein grausames Ende genommen«4. So ist denn Gervinus' Urteil über den dramatischen Aufbau des Gryphius, »daß ... die Scenen nur so hinlaufen, um die Handlungen zu erklären und fortzuführen; auf dramatische Wirkung sind sie nirgends gestellt«5 im ganzen zutreffend, wenn auch, zumindest für ›Cardenio und Celinde‹ einzuschränken. Vor allem aber ist es von Belang, daß solche wenn auch wohlgegründeten doch isolierten Feststellungen zu Fundamenten der Kritik nicht taugen. Die dramatische Form des Gryphius und seiner Zeitgenossen steht nicht schon darum, weil sie das Dramatische der späteren nicht ausprägt, jenen nach. Ihr Wert bestimmt sich in einem Zusammenhange von eigener Bündigkeit.
- Cf. Gotthold Ephraim Lessing: Sämmtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausg. Hrsg. von Karl Lachmann. Bd 7. Berlin 1839. S. 7 ff. (Hamburgische Dramaturgie, 1. u. 2. Stück).↩
- Hallmann: Trauer-, Freuden- und Schäferspiele l.c. [S. 58]. ›Mariamne‹ S. 27 (II, 263 f.).↩
- L.c. ›Mariamne‹ S. 112 (Anm.).↩
- Birken: Deutsche Redebind- und Dichtkunst l.c. [S. 50]. S. 323.↩
- G[eorg] G[ottfried] Gervinus: Geschichte der Deutschen Dichtung. Bd 3. 5. Aufl. Hrsg. von Karl Bartsch. Leipzig 1872. S. 553.↩