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[Begriff des Schicksals im Schicksalsdrama]

Die deutsche Literaturgeschichte begegnet der Sippe des barocken Trauerspiels, den Haupt- und Staatsaktionen, dem Drama der Stürmer und Dränger, der Schicksalstragödie mit einer Sprödigkeit, die nicht sowohl im Unverständnis denn in einer Animosität, deren Gegenstand erst mit den metaphysischen Fermenten dieser Form zutage tritt, ihren Grund hat. Unter den Genannten scheint diese Sprödigkeit, ja die Verachtung mit mehr Recht keines zu treffen als das Schicksalsdrama. Sie ist im Recht, geht man von dem Niveau gewisser späterer Produkte dieser Gattung aus. Die hergebrachte Argumentation stützt sich jedoch aufs Schema dieser Dramen, nicht auf die brüchige Faktur von Einzelheiten. Und da ist denn ein Eingehen auf sie deswegen unerläßlich, weil dies Schema, so wie das obenhin schon anzudeuten war, dem des barocken Trauerspiels so nah verwandt ist, daß es als seine Spielart muß begriffen werden. Zumal im Werke Calderons tritt es als solche sehr deutlich und bedeutend an den Tag. Unmöglich, diese blühende Provinz des Dramas mit Klagen über die vermeintliche Beschränktheit ihres Herrschers zu umgehen, wie Volkelts Theorie des Tragischen mit einer grundsätzlichen Verleugnung aller echten Probleme ihres Gegenstandsbereiches das versucht. »Man (dürfe) nie vergessen« meint er, »daß dieser Dichter unter dem Drucke eines stockkatholischen Glaubens und eines widersinnig gesteigerten Ehrbegriffes«1 gestanden habe. Dergleichen Divagationen begegnet schon Goethe: »Man gedenke Shakespeares und Calderons! Vor dem höchsten ästhetischen Richterstuhle bestehn sie untadelig, und wenn irgend ein verständiger Sonderer, wegen gewisser Stellen, hartnäckig gegen sie klagen sollte, so würden sie ein Bild jener Nation, jener Zeit, für welche sie gearbeitet, lächelnd vorweisen und nicht etwa dadurch bloß Nachsicht erwerben, sondern deshalb, weil sie sich so glücklich bequemen konnten, neue Lorbeern verdienen.«2 Also nicht um seine Bedingtheit ihm nachzusehen, sondern die Art seiner Unbedingtheit erfassen zu lernen, fordert Goethe zum Studium des Spaniers auf. Diese Rücksicht ist für die Einsicht ins Schicksalsdrama geradezu ausschlaggebend. Denn Schicksal ist kein rein natürliches Geschehn — so wenig als ein rein historisches. Schicksal, wie immer sonst es heidnisch, mythologisch sich verkleiden mag, ist sinnerfüllt nur als naturgeschichtliche Kategorie im Geiste der Restaurationstheologie der Gegenreformation. Es ist die elementare Naturgewalt im historischen Geschehen, das selber nicht durchaus Natur ist, weil noch der Schöpfungsstand die Gnadensonne widerstrahlt. Gespiegelt aber in dem Pfuhl der adamitischen Verschuldung. Denn nicht der unentrinnbare Kausalzusammenhang an sich ist schicksalhaft. Es wird, so oft man es auch wiederholen mag, niemals wahr werden, daß dem Dramatiker die Aufgabe zufiele, ein Geschehen als eines, das kausalnotwendig wäre, auf dem Theater zu entwickeln. Wie sollte auch die Kunst einer These Nachdruck verleihen, die zu vertreten das Anliegen des Determinismus ist? Wenn philosophische Bestimmungen ins Kunstwerk eingehn, so sind es solche, die den Sinn des Daseins meinen und Lehren über die naturgesetzliche Faktizität des Weltlaufs, ob sie ihn auch in der Totalität betreffen, bleiben belanglos. Die Anschauung des Determinismus kann keine Kunstform bestimmen. Anders der echte Schicksalsgedanke, dessen entscheidendes Motiv in einem ewigen Sinn solcher Determiniertheit zu suchen wäre. Von ihm aus braucht sie keineswegs sich nach Naturgesetzen zu vollziehen; ebensowohl vermag ein Wunder diesen Sinn zu weisen. Nicht in der faktischen Unentrinnbarkeit ist er gelegen. Kern des Schicksalsgedankens ist vielmehr die Überzeugung, daß Schuld, als welche in diesem Zusammenhang stets kreatürliche Schuld — christlich: die Erbsünde —, nicht sittliche Verfehlung des Handelnden ist, durch eine wie auch immer flüchtige Manifestierung Kausalität als Instrument der unaufhaltsam sich entrollenden Fatalitäten auslöst. Schicksal ist die Entelechie des Geschehens im Felde der Schuld. Durch solch ein isoliertes Kraftfeld ist es ausgezeichnet, in welchem alles Angelegte und Gelegentliche so sich steigert, daß die Verwicklungen, der Ehre etwa, durch ihre paradoxe Heftigkeit verraten: ein Schicksal hat dies Spiel galvanisiert. Wenn einer meinen würde: »Wo uns unwahrscheinliche Zufälle, ausgeklügelte Lagen, allzu verzwickte Intrigen ... entgegentreten, dort ist es mit dem Eindruck des Schicksalsmäßigen ... vorbei«3, so wäre das grundfalsch. Denn gerade die entlegenen Kombinationen, die da nichts weniger als natürlich sind, entsprechen den verschiedenen Schicksalen in den verschiedenen Feldern des Geschehens. Der deutschen Schicksalstragödie freilich fehlte ein Feld solcher Ideen wie Darstellung von Schicksal es erfordert. Die theologische Intention eines Werner konnte den Mangel einer heidnisch-katholischen Konvention, welche bei Calderon kleine Komplexe des Lebens der Wirksamkeit eines astralen oder magischen Schicksals darleiht, nicht ersetzen. Im Drama des Spaniers dagegen entfaltet das Schicksal sich als Elementargeist der Geschichte und es ist logisch, daß allein der König, der große Restaurator der aufgestörten Schöpfungsordnung, es zu schlichten vermag. Astrales Schicksal — souveräne Majestät, das sind die Pole Calderonscher Welt. Das deutsche Trauerspiel des Barock dagegen kennzeichnet sich durch seine große Armut nichtchristlicher Vorstellungen. Daher — fast wäre man versucht zu sagen: nur daher — vermochte es zum Schicksalsdrama nicht zu kommen. Insbesondere fällt auf, wie sehr die ehrbare Christlichkeit Astrologisches verdrängte. Wenn Lohensteins Masinissa bemerkt: »Des Himmels Reitzungen kan niemand überwinden«4 oder wenn die »Vereinbarung der Sterne und der Gemüther« eine Berufung auf ägyptische Lehren über die Abhängigkeit der Natur vom Gestirnlauf bringt,5 so bleibt das vereinzelt und ideologisch. Dagegen hat das Mittelalter — ein Gegenstück zum Fehlgriff neuerer Kritik, die das Schicksalsdrama unter den Gesichtspunkt des Tragischen stellt — das astrologische Verhängnis in der griechischen Tragödie gesucht. Sie wird von Hildebert von Tours im elften Jahrhundert »bereits ganz im Sinne der Fratze beurteilt, die die moderne Auffassung in der ›Schicksalstragödie‹ daraus gemacht hat. Nämlich im grob mechanischen, oder wie man es damals nach dem durchschnittlichen Bilde der antik heidnischen Weltanschauung faßte: im astrologischen Verstande. Hildebert bezeichnet seine (leider unvollendete) ganz selbständig freie Bearbeitung des Oedipusproblems als ›liber mathematicus‹«6.



  1. Volkelt l.c. [S. 101]. S.460.
  2. Goethe: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe l.c. [S. 7]. Bd 34: Schriften zur Kunst. 2. S. 165 f. (Rameaus Neffe, Ein Dialog von Diderot; Anmerkungen).
  3. Volkelt l.c. [S. 101]. S. 125.
  4. Lohenstein: Afrikanische Trauerspiele l.c. (S. 63). S. 320 (Sophonisbe IV, 242).
  5. Cf. Lohenstein: Blumen l.c. (S. 88). ›Rosen‹ S. 130 f. (Vereinbarung Der Sterne und der Gemüther).
  6. Karl Borinski: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie von Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und Wilhelm von Humboldt. I: Mittelalter, Renaissance, Barock. Leipzig 1914. (Das Erbe der Alten. Schriften über Wesen und Wirkung der Antike. 9.) S. 21.