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[Sinnbilder: Hund, Kugel, Stein]

Die Theorie der Melancholie ist um eine Anzahl alter Sinnbilder kristallisiert, in die denn freilich erst die Renaissance mit beispielloser interpretativer Genialität die imposante Dialektik jener Dogmen hineingedeutet hat. Unter den Requisiten, die vor der Dürerschen Melancholie sich drängen, ist der Hund. Nicht zufällig will eine Schilderung des Aegidius Albertinus von dem Gemütszustand des Melancholikers an die Tollwut gemahnen.1 Nach alter Überlieferung »beherrscht die Milz den Organismus des Hundes«2. Er hat dies mit dem Melancholiker gemein. Entartet jenes, als besonders zart beschriebene Organ, so soll der Hund die Munterkeit verlieren und der Tollwut anheimfallen. Soweit versinnlicht er den finsteren Aspekt der Komplexion. Andererseits hielt man sich an den Spürsinn und die Ausdauer des Tieres, um in ihm das Bild des unermüdlichen Forschers und Grüblers besitzen zu dürfen. »Ausdrücklich sagt Pierio Valeriano in seinem Kommentar zu dieser Hieroglyphe, daß derjenige Hund im Aufspüren und Laufen der beste wäre, welcher ›faciem melancholicam prae se ferat‹.«3 Auf dem Dürerschen Blatte zumal wird die Ambivalenz dieses Sinnbilds dadurch bereichert, daß das Tier schlafend dargestellt ist: kommen die bösen Träume aus der Milz, so sind doch auch die divinatorischen das Vorrecht des Melancholikers. Als Gemeingut von Fürsten und Märtyrern sind sie den Trauerspielen bekannt. Aber noch diese Wahrträume sind aus geomantischem Traumschlaf im Schöpfungstempel, nicht als erhabene oder gar heilige Einflüsterung zu verstehen. Denn alle Weisheit des Melancholikers ist der Tiefe hörig; sie ist gewonnen aus der Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge und von dem Laut der Offenbarung dringt nichts zu ihr. Alles Saturnische weist in die Erdtiefe, darin bewährt sich die Natur des alten Saatengottes. Saturn gibt nach Agrippa von Nettesheim »den Samen der Tiefe und ... die verborgenen Schätze«4. Der Blick nach unten kennzeichnet dort den Saturnmenschen, der den Grund mit den Augen durchbohrt. So auch Tscherning: »Wem ich noch unbekandt/ der kennt mich von Geberden | Ich wende fort und für mein' Augen hin zur Erden/ | Weil von der Erden ich zuvor entsprossen bin/ | So seh ich nirgends mehr als auff die Mutter hin.«5 Die Eingebungen der Muttererde dämmern aus der Grübelnacht dem Melancholischen auf wie Schätze aus dem Erdinnern; blitzschnell einschlagende Intuition ist ihm fremd. Zum vollen Reichtum ihrer esoterischen Bedeutung kommt die Erde, vormals als kaltes trocknes Element allein belangvoll, in einer wissenschaftlichen Gedankenwendung des Ficinus. Es ist die neue Analogie von Schwerkraft und gedanklicher Konzentration, mit der das alte Sinnbild in den großen Deutungsprozeß des Renaissancephilosophen sich einfügt. »Naturalis autem causa esse videtur, quod ad scientias, praesertim difficiles consequendas, necesse est animum ab externis ad interna, tamquam a circumferentia quadam ad centrum sese reeipere atque, dum speculatur, in ipso (ut ita dixerim) hominis centro stabilissime permanere. Ad centrum vero a circumferentia se colligere figique in centro, maxime terrae ipsius est proprium, cui quidem atra bilis persimilis est. Igitur atra bilis animum, ut se et colligat in unum et sistat in uno comtempleturque, assidue provocat. Atque ipsa mundi centro similis ad centrum rerum singularum cogit investigandum, evehitque ad altissima quaeque comprehendenda«6. Wenn hierzu Panofski und Saxl gegen Giehlow bemerken, davon, daß Ficinus dem Melancholiker die Konzentration »empfehle«, dürfe nicht gesprochen werden,7 so sind sie im Recht. Mit einer Behauptung aber, die wenig bedeutet gegenüber der Analogienreihe, welche Denken — Konzentration — Erde — Galle umfaßt, und zwar nicht einzig und allein, um vom ersten zum letzten Gliede zu führen, sondern doch wohl auch in unverkennbarer Anspielung auf eine neue Deutung der Erde im alten Weisheitsgefüge der Temperamentenlehre. Verdankt doch diese alter Meinung nach ihre Kugelgestalt und damit, wie schon Ptolemäus fand, ihre Vollendung und zentrale Stellung im Weltraum der Konzentrationskraft. So dürfte denn auch Giehlows Vermutung, die Kugel des Dürerschen Blattes sei ein Denksymbol des Grübelnden nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein.8 Und diese »reifste, geheimnisvolle Frucht der maximilianeischen kosmologischen Kultur«9, wie Warburg sie nennt, dürfte recht wohl für einen Keim gelten, in dem die Allegorienfülle des Barock, noch gebändigt von der Kraft eines Genius zu sprengender Entfaltung bereit liegt. Die Rettung älterer Symbole der Melancholie, wie dieses Blatt und wie die zeitgenössische Spekulation sie gab, ist doch an einem wohl vorbeigegangen, wie es denn auch der Aufmerksamkeit Giehlows und andrer Forscher sich entzogen zu haben scheint. Es ist der Stein. Sein Platz im Inventar der Sinnbilder ist ihm gewiß. Liest man bei Aegidius Albertinus vom Melancholiker: »Die Trübsal, als welche sonsten das Herz in Demut erweicht, machet ihn nur immer störrischer in seinem verkehrten Gedanken, denn seine Tränen fallen ihm nicht ins Herz hinein, daß sie die Härtigkeit erweichten, sondern es ist mit ihm wie mit dem Stein, der nur von außen schwitzt, wenn das Wetter feucht ist«10, so möchte man kaum einhalten, um in diesen Worten einer besonderen Bedeutung nachzugehen. Aber das Bild ändert sich, wenn in der Hallmannschen Leichenrede auf Herrn Samuel von Butschky der Satz begegnet: »Er war von Natur tieffsinnig und Melancholischer Complexion, welche Gemüther einer Sache beständiger nachdencken/ und in allen Actionibus behuttsam verfahren. Das Schlangenvolle Medusen Haupt/ wie auch das Africanische Monstrum, nebst dem weinenden Crocodille dieser Welt konten seine Augen nicht verführen/ viel weniger seine Glieder in einen unarthigen Stein verwandeln.«11 Und zum dritten Male der Stein in Filidors schönem Zwiegespräch zwischen der Melancholei und der Freude: »Melankoley. Freude. Jene ist ein altes Weib/ in verächtlichen Lumpen gekleidet/ mit verhülleten (!) Haupt/ sitzet auff einem Steint unter einem dürren Baum/ den Kopff in den Schooß legendi Neben ihr stehet eine Nacht-Eule ... Melankoley: Der harte Stein/ der dürre Baum/ | Der abgestorbenen Zypressen/ | Giebt meiner Schwermuth sichern Raum | und macht der Scheelsucht mich vergessen ... Freude: Wer ist diß Murmelthier | hier an den dürren Ast gekrümmet? | Der tieffen Augen röthe | straalt/ wie ein Blut Comete/ | der zum Verderb und Schrecken glimmet ... | Jetzt kenn ich dich/ du Feindin meiner Freuden/ | Melanckoley/ erzeugt im Tartarschlund | vom drey geköpfften Hund'. | O! sollt' ich dich in meiner Gegend leiden? | Nein/ warlich/ nein! | der kalte Stein/ | der Blätterlose Strauch/ | muß außgerottet seyn | und du/ Unholdin/ auch.«12



  1. Cf. Albertinus, ed. München 1617, l.c. [S. 156]. S. 417.
  2. Giehlow: Dürers Stich ›Melencolia I‹ und der maximilianische Humanistenkreis. In: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst l.c. [S. 158] 27 (1904), S. 72 (Nr 4).
  3. L.c.; Zitat im Zitat: Pierio Valeriano Bolzanio: Hieroglyphica. Basileae 1556. S. 44.
  4. Franz [Johannes] Boll: Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie. Unter Mitwirkung von Carl Bezold dargestellt von Franz Boll. 3. Aufl. nach der Verfasser Tod hrsg. von Wilhelm] Gundel. Leipzig, Berlin 1926. S. 37.
  5. Tscherning l.c. [S. 149]. (Melancholey Redet selber.)
  6. Marsilius Ficinus, De vita triplici I (1482), 4; (Marsilii Ficini opera, Basileae 1576, S. 496); zitiert nach Panofsky u. Saxl l.c. [S. 163]. S. 51 (Anm. 2).
  7. Cf. Panofsky u. Saxl l.c. S. 51 (Anm. 2).
  8. Cf. l.c. S. 64 (Anm. 3).
  9. Warburg l.c. [S. 164]. S. 54.
  10. Cf. Albertinus, ed. Augsburg 1617, l.c. [S. 156]. S. 406. [So der Nachweis in a; in der verglichenen Münchner Ausg. ist das Zitat nicht nachweisbar, das eher eine Paraphrase darstellen dürfte.]
  11. Hallmann: Leichreden l.c. [S. 81]. S. 137.
  12. Stieler [?] l.c. [S. 45]. ›Ernelinde‹ S. 135 f.