[Trauer und Tragik]
Indem die Tragödie dem Trauerspiel gleichgesetzt wurde, hätte man es recht auffallend finden sollen, daß die aristotelische Poetik von Trauer als der Resonanz des Tragischen schweigt. Jedoch weit entfernt davon, hat die neuere Ästhetik oft geglaubt, im Begriff des Tragischen selber ein Gefühl, die Gefühlsreaktion auf Tragödie und Trauerspiel, ergriffen zu haben. Tragik ist eine Vorstufe der Prophetie. Sie ist ein Sachverhalt, der nur im Sprachlichen sich findet: tragisch ist das Wort und ist das Schweigen der Vorzeit, in denen die prophetische Stimme sich versucht, Leiden und Tod, wo sie diese Stimme erlösen, niemals ein Schicksal im pragmatischen Gehalt seiner Verwicklung. Das Trauerspiel ist pantomimisch denkbar, die Tragödie nicht. Denn an das Wort des Genius ist der Kampf gegen die Dämonie des Rechts gebunden. Die psychologistische Verflüchtigung des Tragischen und die Gleichsetzung von Tragödie und Trauerspiel gehören zusammen. Deutet doch schon des letztern Name darauf hin, daß sein Gehalt die Trauer im Betrachter weckt. Das heißt garnicht, er lasse in Kategorien der empirischen Psychologie besser als jener der Tragödie sich entfalten — dürfte weit eher schon besagen, daß viel besser als der Zustand der Betrübnis diese Spiele einer Beschreibung der Trauer zu dienen vermöchten. Denn sie sind nicht so sehr das Spiel, das traurig macht, als jenes, über dem die Trauer ihr Genügen findet: Spiel vor Traurigen. Ihnen eignet eine gewisse Ostentation. Ihre Bilder sind gestellt, um gesehen zu werden, angeordnet, wie sie gesehen werden wollen. So ist das Renaissancetheater Italiens, welches mannigfach ins deutsche Barock hinüberwirkt, aus der puren Ostentation, nämlich aus den Trionfi,1 den Umzügen mit erläuternder Rezitation entstanden, die unter Lorenzo von Medici in Florenz aufkamen. Und im ganzen europäischen Trauerspiel ist denn auch die Bühne nicht streng fixierbar, eigentlicher Ort, sondern dialektisch zerrissen auch sie. Gebunden an den Hofstaat bleibt sie Wanderbühne; uneigentlich vertreten ihre Bretter die Erde als erschaffnen Schauplatz der Geschichte; sie zieht mit ihrem Hof von Stadt zu Stadt. Der griechischen Anschauung aber gilt die Bühne als kosmischer Topos. »Die Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal: die Architektur der Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte das Bild des Dionysus offenbar wird.«2 Es mag dahingestellt sein, ob diese schöne Beschreibung zutrifft, ob etwa nach Analogie der Gerichtsschranken »die Scene wird zum Tribunal« für jede ergriffene Gemeinde werden müssen — in jedem Falle ist die griechische Trilogie nicht wiederholbare Ostentation, sondern einmalige Wiederaufnahme des tragischen Prozesses in höherer Instanz. Es ist, wie schon das offene Theater und die auf gleiche Weise niemals repetierte Darstellung es nahelegt, ein entscheidender Vollzug im Kosmos, was in ihr sich abspielt. Um dieses Vollzuges willen und als sein Richter ist die Gemeinde geladen. Während der Zuschauer der Tragödie eben durch diese erfordert und gerechtfertigt wird, ist das Trauerspiel vom Beschauer aus zu verstehen. Er erfährt, wie auf der Bühne, einem zum Kosmos ganz beziehungslosen Innenraume des Gefühls, Situationen ihm eindringlich vorgestellt werden. Sprachliches stempelt den Zusammenhang von Trauer und Ostentation, wie er in dem Theater des Barock sich ausprägt, lakonisch. So die »T[rauer]bühne« »uneig., die Erde als ein Schauplatz trauriger Vorfalle ... «; »das T[rauer]gepränge; das T[rauer]gerüst, ein mit Tüchern bedecktes, mit Verzierungen, Sinnbildern etc. versehenes Gerüst, auf welchem die Leiche eines vornehmen Verstorbenen im Sarge ausgestellt wird (Katafalk, Castrum doloris, Trauerbühne)«3. Das Wort ›Trauer‹ liegt stets für diese Zusammensetzungen bereit, in welchen es sozusagen das Mark der Bedeutung aus seinen Begleitworten saugt.4 Sehr kennzeichnend für die drastische, durchaus nicht vom Ästhetischen beherrschte Bedeutung des barocken Terminus heißt es bei Hallmann: »Solch Traur-Spiel kommt aus deinen Eitelkeiten! | Solch Todten-Tantz wird in der Welt gehegt!«5
- Cf. Werner Weisbach: Trionfi. Berlin 1919. S. 17 f.↩
- Nietzsche: Werke. 1,1, l.c. [S. 103]. S. 59.↩
- Theodor Heinsius: Volkthümliches Wörterbuch der Deutschen Sprache mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung für die Geschäfts- und Lesewelt. 4. Bdes 1. Abt.: S bis T. Hannover 1822. S. 1050.↩
- Cf. Gryphius l.c. [S. 53]. S. 77 (Leo Armenius in, 126).↩
- Hallmann: Trauer-, Freuden- und Schäferspiele l.c. [S. 58]. ›Mariamne‹ S. 36 (II, 529 f.). — Cf. Gryphius l.c. S. 458 (Carolus Stuardus V, 250).↩