André Gide: La porte étroite
Schuld und Seligkeit treten reiner im Leben der Kinder in Erscheinung als im spätern, weil die Erscheinungen in ihm nichts anderes beanspruchen, als die wesentlichen Gefühle in sich zu halten. Hier scheinen die feindlichen Heerscharen, Schuld und Seligkeit, noch in den Schauplatz eingebettet, in das friedliche Feld der spätem Schlacht, deren zweideutigen Verlauf und alles entscheidendes Ende erst die kommenden Jahre abzuschätzen vermögen. Deshalb ist nichts trostreicher und zugleich erleuchtender als von der Höhe jener Jahre herab das Auge auf diesen – wenn auch durchklüfteten so dennoch friedlichen – Gefilden der Kindheit ruhen zu lassen. Nur muß jene Höhe errungen sein, damit die Kindheit dem Ernst des herrschenden Geschicks vergleichbar erscheine, wie inden befreienden und erleuchtenden Kinderepisoden der Brüder Karamasoff. Dagegen ist für einen Künstler, der um den unverstellten Anblick von Schuld und Seligkeit, um das moralische Antlitz seines Helden ringt, der entgegengesetzte Weg, von der Kindheit zum Manne oder zum Weibe kein Vorwurf. Denn der Anblick der Kindheit als der friedlichen Walstatt, um den es diesem Autor zu tun sein muß, und ihre Erschließung durch die Macht der Seligkeit und der Verschuldung gelingt nur von jener Höhe herab, während die Betrachtung, die im Felde der Kindheit verharrt, so Herrliches sie auch fördert, nicht den Ernst in ihr, welcher dem trauernd Erwachsenen verwandt ist, erschließt.
Diesen unlösbaren Vorwurf hat André Gide gewählt. »La porte étroite«, die enge Pforte, ist wohl weniger die, durch welche die Tugendhaften, als die, durch welche die kindlichen Menschen in den Himmel einzutreten vermöchten. Weil aber ins Vollenden und Mann-Werden des Kindes völlig neue Kräfte hereinspringen, die nirgends vorbereitet und gefunden werden als in Gott, ist dies kein Gegenstand der Kunst. Gide sucht die Kindheit so hinaufzutreiben, daß sie an den letzten Himmel heranreiche, an Gott, er sucht ihren Ernst aufs tiefste zu prägen. Mit alledem gelingt es ihm nicht, durch die irdischen Stadien des Werdens sie hindurchgehen zu lassen, und der Weg der Seele verläuft mit meteorischer Willkür, weil das, was hier dargetan werden soll, nur der Erinnerung des Mannes, nicht der Gegenwart des Wachsenden zufällt: nämlich die letzte ernste Frömmigkeit der Kindheit. Gide sucht den mühseligen Weg abzukürzen und weil er die Frömmigkeit in ihrer bewegenden Kraft anerkennt, sucht er Bewegung unter den Kindern. Aber daß er den frommen Ernst der Bewegung dort vergebens völlig sichtbar zu machen sucht, jenen Ernst, der ein Gebet aus der Schlacht ist, sieht man. Anders Dostojewski, der in einem Mann den Spiegel aufstellt, in dem Kinderernst und Kinderlust gleich erschütternd dem Betrachter den Anblick von Schuld und Seligkeit erweckt.
Die Bewegung, eingefangen in eine Liebe wie Luft in einem Netz, sucht sich vergebens zu entscheidender Kraft auszuprägen. Es ist vorherzusehen, daß sie scheitern muß – und kaum das, sondern vielmehr versanden, ehe sie ihre eigene Kraft entfalten kann. Das Buch behandelt eine Kinderliebe, die den Weg durch die schmale Pforte in den Himmel sucht. Diese ihre Heimat glaubt sie nur durch Entsagung zu finden, eine Entsagung, die nicht aus kirchlichen Vorschriften und Wertungen, sondern aus dem allzu früh verspürten Atem der Bewegung selbst ihren Grund nimmt. Das Mädchen wendet sich langsam aber unerbittlich vom Knaben ab, damit er sich Gott zuwende. Dies geschieht völlig motiv los und als ob das Mädchen auf das Geheiß einer Stimme handle. Die Willkür ihres Handelns beugt den Knaben und den Leser bedrückt sie, wie ein Rätsel, dessen Lösung nichts Gutes verheißt. Er erkennt, worüber die Personen des Buches im Dunkel bleiben, daß nicht eine Offenbarung, ein unwiderrufliches Gebot Alissas Handeln zu Grunde liegt, sondern innre Unklarheit, also Willkür. Während in allem einzelnen die vollendete Wahrheit der Bewegung das Buch inspiriert, eine Wahrheit, welche die Sehnsucht seines Autors nach dem wahren Leben zu erkennen gibt, verfällt daher das Ganze innerlich an einem Punkte. Das Geschehen vereitelt sich selbst und der unendliche Fehler der Anlage bricht aus. Ein Kreuz von Amethysten nimmt die tote Alissa ins Grab, das einst als ein Geschenk von ihr ihrem Geliebten teuer gewesen ist und als es in ihre Hand zurückkam ihre Trennung besiegelte. Nach allem Geschehen aber ist dies Kreuz zuviel und es liegt da, wie zu Füßen der Seligen im Himmel ein Kieselstein. Verfänglich, ja banal, verrät dies arme Zeichen des Gedenkens das Gebrechen dieser Vorgänge. Sie verkümmern (wie alles Banale) nicht an einem eigentlich falschen Gefühl, vielmehr an einem, das im Ausdruck, kraft einer ursprünglichen Anlage, sich selbst vereitelt.
Was Gide in der Kindheit suchte, ließ sich in ihr nicht finden. Er durchwühlt gleichsam wie ein Verzweifelter ihren Boden, aber in ihm ist nicht der Schatz, nicht die Seligkeit selbst zu finden, sondern nur für den Betrachtenden, der um sie weiß, ihre Beschreibung. Dieses Entgleiten, diese Vereitlung ist es, die Gide selbst gefühlt hat, die er zu Beginn ankündigt und die zum Schluß zur Klage ihn beseelt hat. Denn eben auf sie verweisen seine ersten Worte, mit denen er die Bezeichnung des Werkes von dieser Geschichte fern halten möchte. »D'autres en auraient pu faire un livre.« Er hat, nicht weil er von der Vollendung dieses Geschehens ergriffen gewesen wäre, sondern weil seine Vereitlung ihn erschüttert hat, es aufgezeichnet, um die Klage ihm nachzusenden, zu der, wie jede äußere, so auch die innere Kränkung der Kindheit in sich selbst bewegt.