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Malerei und Graphik

Ein Bild will senkrecht vor dem Beschauer gehalten sein. Ein Mosaik am Fußboden liegt waagerecht zu seinen Füßen. Man pflegt, was diesen Unterschied angeht, Graphik ohne weiteres wie ein Gemälde zu betrachten. Doch ist es eine sehr wichtige und weitgreifende Unterscheidung, die in der Graphik zu machen ist: man wird einen Studienkopf, eine Rembrandtsche Landschaft nach Art eines Gemäldes betrachten dürfen oder bestenfalls in einer neutral waagerechten Lage diese Blätter belassen. Dagegen betrachte man Kinderzeichnungen. Es wird zumeist gegen deren inneren Sinn verstoßen, sie senkrecht vor sich hinzustellen, ebenso nehme man Zeichnungen von Otto Groß, man muß sie horizontal auf den Tisch legen. Hier liegt ein ganz tiefes Problem der Kunst und ihrer mythischen Verwurzelung vor. Man könnte von zwei Schnitten durch die Weltsubstanz reden: der Längsschnitt der Malerei und der Querschnitt gewisser Graphiken. Der Längsschnitt scheint darstellend zu sein, er enthält irgendwie die Dinge, der Querschnitt symbolisch: er enthält die Zeichen. Oder aber ist es nur unserm Lesen so, daß wir die Seite waagerecht vor uns legen; und gibt es etwa als ursprüngliche Lage der Schrift auch eine vertikale, etwa in Stein gehauen? Dabei kommt es natürlich nicht einfach auf den bloßen äußeren Befund an, sondern auf den Geist: ob das Problem auf dem einfachen Satz aufzubauen ist, daß das Bild senkrecht, das Zeichen waagerecht liege, obwohl dies in wechselnden metaphysischen Beziehungen durch die Zeiten zu verfolgen ist.

Kandinskys Bilder: Zusammenfallen von Beschwörung und Erscheinung.