Die Zeitung
In unserem Schrifttum sind Gegensätze, die sich in glücklicheren Epochen wechselseitig befruchteten, zu unlösbaren Antinomien geworden. So fallen Wissenschaft und Belletristik, Kritik und Produktion, Bildung und Politik beziehungslos und ungeordnet auseinander. Schauplatz dieser literarischen Verwirrung ist die Zeitung. Ihr Inhalt »Stoff«, der jeder anderen Organisationsform sich versagt als der, die ihm die Ungeduld des Lesers aufzwingt. Denn Ungeduld ist die Verfassung des Zeitungslesers. Und diese Ungeduld ist nicht allein die des Politikers, der eine Information, oder des Spekulanten, der einen Tip erwartet, sondern dahinter schwelt diejenige des Ausgeschlossenen, der ein Recht zu haben glaubt, selbst mit seinen eigenen Interessen zu Wort zu kommen. Daß nichts den Leser so an seine Zeitung bindet wie diese zehrende, tagtäglich neue Nahrung verlangende Ungeduld, haben die Redaktionen sich längst zunutze gemacht, indem sie immer wieder neue Sparten seinen Fragen, Meinungen und Protesten eröffneten. Mit der wahllosen Assimilation von Fakten geht also Hand in Hand die gleich wahllose Assimilation von Lesern, die sich im Nu zu Mitarbeitern erhoben sehen. Darin aber verbirgt sich ein dialektisches Moment: der Untergang des Schrifttums in dieser Presse erweist sich als die Formel seiner Wiederherstellung in einer veränderten. Indem nämlich das Schrifttum an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert, beginnt die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum, die die Presse auf konventionelle Art aufrechterhält (auf routinierte aber bereits lockert), auf die gesellschaftlich erstrebenswerte zu verschwinden. Der Lesende wird jederzeit bereit, ein Schreibender, nämlich ein Beschreibender oder auch ein Vorschreibender zu werden. Als Sachverständiger – und sei es auch nicht für ein Fach, vielmehr nur für den Posten, den er versieht – gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit selbst kommt zu Worte. Und ihre Darstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, der zu ihrer Ausübung erfordert wird. Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet und so Gemeingut. Es ist, mit einem Wort, die Literarisierung der Lehensverhältnisse, welche der sonst unlöslichen Antinomien Herr wird, und es ist der Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des Wortes – die Zeitung also –, auf welchem seine Rettung sich vorbereitet.