Über Stefan George
Nur daß die »Literarische Welt« ihre Aufforderung so formulierte, wie es geschehen ist, ermöglicht es mir, einiges aufzuzeichnen, was sich sofort mir selbst entziehen würde, wenn ich den Versuch machen wollte, über Stefan George zu schreiben. Im Bewußtsein, daß ein solcher Versuch nie und nimmer gelingen könnte, bemühe ich mich, desto genauer mir zu vergegenwärtigen, wie George in mein Leben hinein wirkte. Voranzuschicken ist dies: Er tat es niemals in seiner Person. Wohl habe ich ihn gesehen, sogar gehört. Stunden waren mir nicht zu viel, im Schloßpark zu Heidelberg, lesend, auf einer Bank, den Augenblick zu erwarten, da er vorbeikommen sollte. Eines Tages kam er langsam daher und sprach zu einem jüngeren Begleiter. Auch habe ich ihn dann und wann im Hof des Schlosses auf einer Bank sitzen gefunden. Doch das war alles zu einer Zeit, da die entscheidende Erschütterung seines Werkes mich längst erreicht hatte. Die aber ist in keinem Falle von dem Gelesenen und immer von Gedichten nur ausgegangen, die ich in einem bestimmten, eingreifenden Augenblick im Munde derer, mit denen verbunden ich damals lebte, ein- oder zweimal auch in meinem eigenen, gefunden habe. Verbunden mit diesen – von denen heute keiner mehr lebt –, nicht durch jene Gedichte, vielmehr durch eine Kraft, von der ich eines Tages werde zu sagen haben. Es war dieselbe, die mich zuletzt von diesem Werke schied. Aber sie konnte es nur, weil jenes Werk und weil das Dasein seines Schöpfers in ihr so gegenwärtig gewesen ist, daß sie ohne beide nicht denkbar gewesen wäre. Wenn es das Vorrecht und das unnennbare Glück der Jugend ist, in Versen sich legitimieren, streitend und liebend sich auf Verse berufen zu dürfen, so verdankten wir, daß wir dieses erfuhren, den drei Büchern Georges, deren Herzstück das »Jahr der Seele« ist. – Im Frühjahr 1914 ging unheilverkündend überm Horizont der »Stern des Bundes« auf, und wenige Monate später war Krieg. Ehe noch der Hundertste gefallen war, schlug er in unserer Mitte ein. Mein Freund starb. Nicht in der Schlacht. Er blühte auf einem Felde der Ehre, wo man nicht fällt. Monate folgten, von denen ich nichts mehr weiß. In diesen Monaten aber trat, was er an Gedichten hinterlassen hatte, an die wenigen Stellen, wo noch in mir Gedichte bestimmend zu wirken vermochten. Sie bildeten eine andere Figur. Und wenn ich die alte der neuen vergleichen wollte: sie waren wie ein alter Säulenwald und eine junge Schonung. So ist Georges Wirken in mein Leben gebunden ans Gedicht in seinem lebendigsten Sinn. Wie seine Herrschaft in mir wurde und wie sie zerfiel, das alles spielt im Raume des Gedichts und in der Freundschaft eines Dichters sich ab. Das will aber heißen, die Lehre, wo immer auch ich auf sie stieß, weckte mir nichts als Mißtrauen und Widerspruch. Gerade daß ich noch weiß, daß Boehringers Aufsatz im Jahrbuch »Über Hersagen von Gedichten« nachhaltiger auf mich wirkte. Im übrigen fand ich in jener Priesterwissenschaft der Dichtung, die von den »Blättern für die Kunst« gehütet wurde, nie einen Nachhall der Stimme, die »Das Lied des Zwergen« oder die »Entführung« getragen hatte. Diese Gedichte aber vergleiche ich im Massiv des Deutschtums jenen Spalten, die nach der Sage nur alle tausend Jahre sich auftun und einen Blick ins innere Gold des Berges gewähren. – Nun müßte ich freilich noch ein Wort über die Dante-Übersetzung hinzufügen. Aber ich hätte auch hier nur wieder das Gleiche zu sagen: wie ein Gedicht Georges die Gestalt einer Liebe annahm. Es war der fünfte Gesang der »Hölle«, in dem die Stimme, die ihn eines hellen Vormittags in einem Münchner Atelier mir las, durch Jahre in mir fortwirkte, so wie vordem eine entscheidende Stunde im Walde – es war eines der letzten Male, da ich die sah, die meinem Freunde in allem gefolgt ist – mir unvergeßlich durch die rätselhafte Gebärde blieb, mit der sie auf Georges Gedicht: »Es lacht in dem steigenden Jahr dir« gewiesen hatte. So wie »Gemahnt dich noch das schöne Bildnis dessen« auch mich, in der Tat, gemahnt, da mein Freund, indem er es liebte, ihm Züge von sich gegeben hat. Sehr anders ist das Gesicht, das zwei Dichtungen aus dem »Teppich des Lebens« vor mir beschwören: die scharfen Züge eines inbrünstig, aber glücklos veranlagten Mannes, der nie in Stimme und Erscheinung so er selber war, als da er die Verse »Dreh ich in meinen Händen die rötlichen Urnen« und den »Täter« hersagte. Immerhin habe ich im Bezirk dieser Dichtungen zu lange verweilt, um nicht auch eines Tages seine Schrecken kennenzulernen. Eine Auswahl Jean Paulscher Stellen, kaum eben auf des letztgenannten Zimmer gefunden, begleitete mich von da auf ein Fest und wurde auf dem schiefesten Weg meines Lebens ein Vademecum. Aber wie Geister ungeborner Stunden, versäumter Möglichkeiten, stehen zuletzt noch einige Gedichte seitab, die ich immer allein geliebt habe, die sich nur immer allein mir erschlossen: Merkzeichen dessen, was möglich gewesen wäre, wären Einsamkeit und Versäumnis nicht das Notwendige.