Zum Hauptinhalt springen

Elftes Kapitel

Die erschrocknen Dienstboten beeilten sich, einen Arzt aus Fontenay herbeizuholen, der absolut nichts von dem Zustand des Herzogs verstand.

Er brummte einige medizinische Ausdrücke, fühlte den Puls, besah die Zunge des Kranken, versuchte, allerdings vergebens, ihn zum Sprechen zu bringen, verordnete lindernde Mittel und große Ruhe und versprach, den andern Tag wieder zu kommen.

Auf ein verneinendes Zeichen des Herzogs, der Kraft genug fand, den Eifer seiner Dienstboten zu mißbilligen und diesen lästigen Eindringling zu verabschieden, ging er fort und machte sich daran, im ganzen Dorf von den Exzentrizitäten dieses Hauses zu erzählen, dessen Einrichtung ihn geradezu mit Verwunderung erfüllt und ihn verblüfft hatte.

Zum größten Erstaunen der beiden alten Diener, die nicht mehr das Dienstzimmer zu verlassen wagten, erholte sich ihr Herr in einigen Tagen wieder. Sie überraschten ihn, wie er an die Scheiben trommelte und den Himmel mit ungeduldiger Miene betrachtete.

Eines Nachmittags klingelte der Herzog mehrere Male hintereinander und befahl dem eintretenden Diener, seine Koffer für eine längere Reise fertig zu machen.

Während das alte Ehepaar auf seine Angaben hin die als notwendig mitzunehmenden Gegenstände wählte, durchschritt er fieberhaft erregt die Kabine seines Eßzimmers, studierte die Abfahrtszeiten der Paketboote, durcheilte hastig sein Arbeitszimmer, wobei er ungeduldig die Wolken mit zufriedener Miene beobachtete.

Das Wetter war schon seit einer Woche abscheulich, dicke Nebel lagerten über der Erde. Starke Regengüsse hatten das Tal in einen schwarzen See verwandelt.

An jenem Tage war der Himmel heller geworden.

Der Regen stürzte nicht mehr wie den Tag vorher in Strömen herab, sondern fiel unablässig fein und durchdringend und schien mit seinen unzähligen Fäden die Erde mit dem Himmel zu verbinden.

Das Licht trübte sich; ein fahler Tag beleuchtete das Dorf, und in dieser Trostlosigkeit der Natur verschwammen alle Farben, und nur die Dächer glänzten in diesem Grau in Grau.

„Welch ein Wetter!“ seufzte der alte Diener, der die Kleidungsstücke, die sein Herr verlangt hatte, auf einen Stuhl legte.

Statt jeder Antwort rieb sich der Herzog die Hände und setzte sich vor einen Schrank mit bunten Scheiben, in dem ein Stoß von seidnen Socken in Fächerform aufgehäuft lag. Er war über die Nuancen unschlüssig. Seine Wahl fiel in anbetracht der Trostlosigkeit des Tages und des düstern Graus seines Anzuges, sowie im Hinblick auf sein Ziel auf ein Paar in mattgrüner Seide. Er zog ein Paar Halbstiefel darüber und den mausgrauen karierten Anzug an, setzte sich einen kleinen runden Hut auf und hüllte sich in einen dunkelblauen Wettermantel. Von seinem Diener gefolgt, der unter dem Gewicht eines Koffers, einer Reisetasche, einer Hutschachtel und einer Reisedecke, in die Schirme und Spazierstöcke gewickelt waren, fast zusammenbrach, kam er auf dem Bahnhof an.

Hier erklärte er dem Diener, daß er nicht das Datum seiner Rückkehr bestimmen könne, er würde in einem Jahr, in einem Monat, in einer Woche, vielleicht noch früher zurückkommen, befahl, daß nichts in seiner Wohnung geändert werde, händigte ihm die nötige Summe ein, die zum Unterhalt des Hauses während seiner Abwesenheit nötig war, stieg in den Waggon und ließ den alten Diener ganz verstört mit schlotternden Armen und offnem Mund auf dem Perron zurück.

Er war in seinem Coupé allein. Eine verschwommne, schmutzige Landschaft, wie durch das trübe Wasser eines Aquariums gesehn, flog in größter Eile an dem vom Regen gepeitschten Zug vorbei. In Nachdenken versunken schloß der Herzog die Augen.

Das Schweigen, das ihm bisher wie eine Entschädigung für die Albernheiten, die er jahrelang über sich hatte ergehn lassen müssen, erschienen war, drückte ihn plötzlich mit unerträglicher Schwere.

Eines Morgens nämlich war er aufgewacht, erregt, wie ein Gefangener, der in einer Zelle eingeschlossen ist; seine entnervten Lippen murmelten unzusammenhängende Worte, Tränen stiegen ihm in die Augen, ihm war es, als sollte er ersticken.

Das Verlangen, ein menschliches Gesicht zu sehn, mit einem andern Wesen zu sprechen, sich in das flutende Leben zu stürzen, verzehrte ihn. Es kam sogar dahin, daß er seine Dienstboten unter einem Vorwand zu sich kommen ließ und in Gespräche verwickelte. Aber die Unterhaltung war unmöglich; denn die alten Leute waren durch jahrelanges Schweigen und durch die Gewohnheit der Krankenpflege fast stumm geworden; dann verhinderte auch die Entfernung, in der sie der Herzog immer von sich gehalten hatte, jedes Plaudern.

Übrigens besaßen sie nur ein träges Gehirn und waren fast unfähig, anders als einsilbig auf die Fragen, die man an sie richtete, zu antworten.

Er konnte also auf sie nicht rechnen.

Die Lektüre von Dickens, die er unlängst gepflegt hatte, um seine Nerven zu beruhigen, und die nur die entgegengesetzte Wirkung hervorgebracht hatte, begann langsam in einer unerwarteten Weise zu wirken.

Er vertiefte sich in das englische Leben. Seine Betrachtungen vermischten sich mit den Eindrücken aus der Lektüre.

So hoffte er durch eine Reise den erschlaffenden Ausschweifungen seines Geistes zu entgehn.

Er hielt es nicht länger aus; eines Tages entschloß er sich plötzlich, dem allen ein Ende zu machen. Seine Eile war so groß, daß er lange vor der anberaumten Zeit schon die Flucht ergriff.

Er wollte sich der Gegenwart entziehn und sich herumgestoßen fühlen in dem Straßenlärm und in dem Getöse der Welt.

„Ich atme auf,“ murmelte er, als der Zug seine Bewegungen einstellte und in der Pariser Bahnhofshalle anhielt.

Auf dem Boulevard d’Enfer rief er einen Kutscher an, ganz vergnügt, mit seinen Koffern und Decken so ins Gewühl geraten zu sein. Durch ein reichliches Trinkgeld verständigte er sich mit dem Mann in nußbraunem Beinkleid und roter Weste:

„Auf Zeit,“ sagte er, „zunächst nach der Rue de Rivoli zu ‚Galignanis Messenger‘!“

Er beabsichtigte, vor seiner Abreise einen Führer durch London zu kaufen.

Der Wagen schwankte schwerfällig durch den entsetzlichen Schmutz vorwärts.

Der Regen schlug schräg in den Wagen, so daß der Herzog die Fenster schließen mußte.

Bei dem monotonen Geräusch des auf seine Koffer und den Lederschutz niederströmenden Regens, der sich wie ein Sack geschüttelter Erbsen anhörte, träumte der Herzog von seiner Reise; dies war schon ein Vorspiel von England, das ihm Paris bei diesem schauderhaften Wetter bot. Das regnerische, riesengroße, weite London, das unablässig in Seenebel lag, entrollte sich vor seinen Augen. Lange Reihen Docks breiteten sich unabsehbar vor ihm aus, besät mit Hebemaschinen, Schiffswinden und Ballen; allerwärts wimmelt es von Menschen, die hier an Masten hängen, dort rittlings auf Rahen sitzen.

Alles das lebte und bewegte sich an den Ufern in den riesigen Docks, die von dem grünlichen Wasser der Themse bespült werden, in einem Wald von Masten und Balken.

Es bereitete dem Herzog ein Gruseln, daß er sich in eine Welt von Kaufleuten stürzen sollte, in diesen Nebel, in diese atemlose Tätigkeit, dieses unbarmherzige Räderwerk, das Millionen Enterbter zermalmt.

Dann verschwand diese Vision plötzlich durch einen Stoß des Wagens, der ihn auf seinen Sitz zurückprallen ließ.

Er sah durch das Fenster; es war Nacht geworden. Die Gasflammen blinzelten mitten in einem gelblichen Hofe durch den Nebel, Lichtstreifen schwammen auf den Pfützen.

Er versuchte sich zurechtzufinden; er erblickte das Karussell. Plötzlich, aus seinen Träumen aufgescheucht, fiel ihm ein höchst trivialer Umstand ein: sein Diener hatte beim Kofferpacken eine Zahnbürste vergessen.

Er unterwarf die Liste der eingepackten Gegenstände einer Musterung, alle lagen geordnet in seiner Reisetasche, nur die Bürste fehlte, und sein Ärger darüber dauerte fort, bis ihm das Halten des Wagens ein Ende machte.

Er befand sich in der Rue de Rivoli, vor „Galignanis Messenger“. Neben einer Tür von mattem Glas, die mit Zeitungsausschnitten und Telegrammen beklebt war, hingen zwei große Glaskasten mit Albums und Büchern. Er trat näher, angezogen von den buntfarbigen Büchereinbänden, die in allen Formen und Größen dort ausgestellt waren. Alles hatte einen kaufmännisch antiparisischen Anstrich, die Einbände waren gröber, aber weniger geschmacklos als die schlechten französischen.

Dann öffnete er die Tür und trat in ein großes Bibliothekzimmer, das mit Menschen angefüllt war. Fremde saßen umher und entfalteten Karten und radebrechten in unbekannten Sprachen.

Ein Kommis brachte ihm eine ganze Kollektion von Reisehandbüchern. Er setzte sich nieder und sah sich die Bücher, deren biegsamer Pappband sich unter dem Druck seiner Finger bog, durch. Er durchblätterte sie und blieb bei einer Seite des Bädeker stehn, auf der die Museen Londons beschrieben sind.

Er interessierte sich für die kurzen und graziösen Details des Führers; seine Aufmerksamkeit ging von der alten englischen Malerei zu der neuen über, die ihn mehr reizte. Er erinnerte sich einiger Bilder, die er in internationalen Ausstellungen gesehn hatte, und hoffte, daß er sie vielleicht in London wiederfinden werde, wie die Gemälde von Millais: „die Krankenwache der heiligen Agnes“, mit jenem seltsamen grünlich-silbernen Mondlicht, dann Bilder von Watts, von eigentümlichem Farbengemisch, die von einem kranken Gustav Moreau entworfen und von einem blutarmen Michelangelo ausgeführt sein konnten.

Unter anderm erinnerte er sich einer „Denunziation des Kain“ und einer „Ida“.

Alle diese Gemälde traten vor sein Gedächtnis. Der Kommis, erstaunt, diesen Käufer so in Gedanken verloren am Tische sitzen zu sehn, fragte ihn endlich, ob er schon eine Wahl getroffen habe.

Der Herzog starrte ihn ganz verdutzt an, entschuldigte sich, kaufte einen Bädeker und ging hinaus.

Die feuchte Luft machte ihn schaudern, der Wind blies von der Seite her und peitschte den Regen unter die Arkaden.

„Fahrt ein paar Schritte weiter!“ rief er dem Kutscher zu, indem er ihm mit dem Finger einen Laden am Ende des Bogenganges bezeichnete, der die Ecke der Rue de Rivoli und der Rue Castiglione bildete und, von innen erhellt, mit seinen weißlichen Scheiben einer riesigen Nachtlampe glich, die in dem Mißbehagen dieses Nebels und in dem Elend dieses abscheulichen Wetters den Spaziergänger lockte.

Es war die „Bodega“.

Der Herzog ging in einen großen Saal, der sich zu einem langen Gang formte und von gußeisernen Pfeilern getragen war. An den Seitenwänden lagerten hohe Fässer, die mit königlichen Wappen bemalt waren und in farbigen Aufschriften den Namen ihres Inhalts bezeichneten.

In dem freigelassenen Raume zwischen den Fässern, unter den summenden Flammen einer abscheulich häßlichen, eisengrau bemalten Gaskrone standen Tische mit Körben voll trocknen oder salzigen Gebäcks, mit Tellern, auf denen Brötchen gehäuft lagen, die mit scharfer, senfhaltiger Butter bestrichen oder mit altem Holländerkäse belegt waren.

Ein Dunst von Alkohol schlug dem Herzog entgegen, als er in dem Saal Platz nahm.

Der Saal war mit Menschen angefüllt; um ihn herum wimmelte es von Engländern: blasse Geistliche von lächerlichem Aussehn, vom Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gekleidet, mit weichen Hüten, geschnürten Schuhen, in endlosen Röcken, die auf der Brust mit kleinen Knöpfen besetzt waren, mit glattem Kinn, runden Brillen und glattem, fettigem Haar; aufgedunsne Weingesichter früherer Schweinehändler und Bulldoggengesichter mit Ohren wie Tomaten, blauroten Backen und Nase, blöden, blutunterlaufnen Augen und Bärten, die ihnen ein Pavian-Ansehn gaben.

Eine eigentümliche Erschlaffung befiel den Herzog in dieser Wachtstubenatmosphäre; betäubt von dem Geschwätz der um ihn herumsitzenden Engländer träumte er, und aus dem purpurnen Inhalt seines mit Portwein gefüllten Glases stiegen die Dickensschen Typen herauf, die so gern tranken, und bevölkerten so den Raum mit neuen imaginären Gestalten.

Er sah hier die weißen Haare und den feuerroten Teint Wickfields; dort das phlegmatische und schlaue Gesicht mit dem unversöhnlichen Blick Tulkinghorns, des unheimlichen Sachwalters von Bleak-House.

Ganz klar und bestimmt sonderten sich jetzt alle diese Figuren in seiner Erinnerung ab und ließen sich mit ihren Bewegungen in der Bodega nieder; sein Gedächtnis, durch die kürzliche Lektüre aufgefrischt, vergegenwärtigte ihm alles in den klarsten Farben.

Die Stadt, in der der Romanschreiber gelebt hatte, das hell erleuchtete Haus, schön durchwärmt, gut versorgt und verschlossen, wo der Wein sorgsam eingeschenkt wurde von der kleinen Dorrit, Dora Copperfield und der Schwester des Tom Pinch, erschienen ihm eine wohlige Arche in einer Sintflut von Schmutz.

Er faulenzte in diesem erträumten London, glücklich, in Sicherheit zu sein.

Sein Glas war leer. Trotz des dichten Dunstes, der in dem großen Raum herrschte, erhöht durch den Rauch von Zigarren und Pfeifen, empfand er ein leichtes Frösteln.

Er bestellte ein Glas Amontillado. Dieser herbe, helle Wein zerstörte die sanften Geschichten des englischen Dichters sehr bald, und die aufregend rauhen Phantasien des Edgar Poe tauchten wieder vor ihm auf. Plötzlich bemerkte er, daß er beinahe ganz allein in dem großen Saal war, die Dinerstunde war nahe; er zahlte und erhob sich hastig von seinem Sitz und gewann ganz betäubt die Tür.

Als er hinaustrat, schlug ihm der Regen heftig ins Gesicht, die Flammen der Straßenlaternen flackerten ängstlich hin und her.

Der Herzog betrachtete die Arkaden der Rue de Rivoli, die mit Wasser überschwemmt sich im Schatten verloren, und es war ihm, als wenn er sich im düstern Tunnel unter der Themse befinde; doch eine gewisse Leere im Magen, die sich sehr fühlbar machte, rief ihn in die Wirklichkeit zurück.

Er ging zu seinem Wagen und befahl dem Kutscher, nach einem englischen Restaurant in der Rue d’Amsterdam, nahe dem Bahnhof, zu fahren. Er sah nach der Uhr: es war gerade sieben. Er hatte also noch Zeit zu speisen; der Zug ging erst um acht Uhr fünfzig Minuten; er zählte an seinen Fingern, berechnete ungefähr die Stunden der Überfahrt von Dieppe nach Newhaven und sagte sich:

„Morgen mittag um halb eins werde ich in London sein.“

Der Fiaker hielt vor dem Restaurant still; wiederum stieg der Herzog aus und schritt in einen langen schmucklosen Saal.

Zahlreiche Bierpumpen waren auf dem Schenktisch aufgestellt, daneben lagen Schinken, so stark geräuchert, daß sie wie alte Violinen aussahen, Hummern wie mit rotem Bleioxyd gefärbt, marinierte Makrelen, die in einer trüben Sauce schwammen.

Er nahm in einer der leeren Nischen Platz und rief einen jungen Mann in schwarzem Anzug, der sich verbeugte und ihm etwas in einem unverständlichen Kauderwelsch erzählte.

Während man den Tisch deckte, musterte der Herzog seine Nachbarn. Es waren wie in der Bodega Söhne Albions, mit den bekannten Fayence-Augen, mit karmoisinrotem Teint, die mit bedächtiger und anmaßender Miene auswärtige Zeitungen lasen.

Damen ohne Herrenbegleitung speisten miteinander, robuste Engländerinnen mit männlichen Zügen und Zähnen so breit und groß wie Klaviertasten, mit vorstehenden Backenknochen, langen Händen und noch längern Füßen.

Sie fielen mit wahrem Heißhunger über die gebrachten Gerichte her, die mit überraschender Geschwindigkeit verschwanden.

Da er schon seit langem keinen Appetit mehr verspürt hatte, war er von der Gefräßigkeit dieser Frauenzimmer ganz verblüfft, fühlte aber, daß seine Eßlust dadurch angeregt wurde.

Er bestellte eine Oxtailsuppe und aß mit nicht geringem Behagen diese kräftige Brühe. Darauf wählte er einen Haddock, eine Art geräucherten Stockfisch, der ihm sehr schmackhaft schien, und da er die andern so einhaun sah, aß auch er noch ein Roastbeef mit Kartoffeln und trank zwei Glas Ale dazu, das ihn durch seinen herben, eigentümlichen Geschmack reizte.

Sein Hunger war bald gestillt, doch verarbeitete er noch ein Stück Stiltonkäse und beendete sein Diner mit einer Rhabarbertorte, und um abzuwechseln, befriedigte er seinen Durst noch mit einem Glas Porter.

Er atmete auf; seit Jahren hatte er nicht soviel gegessen und getrunken, diese Veränderung in seinen Gewohnheiten, diese Wahl unvermuteter, schwerer Nahrung hatte seinen Magen seiner schwerfälligen Ruhe entzogen. Er drückte sich tiefer in seinen Stuhl, zündete eine Zigarette an und machte sich daran, eine Tasse Kaffee, in den er Gin goß, zu schlürfen.

Der Regen fiel noch immer in Strömen vom Himmel, er hörte ihn auf das Glasdach prasseln, das den Hintergrund des Saales überdeckte, und wie in Wasserfällen aus den Dachrinnen stürzen. Niemand rührte sich im Saal, alle Gäste waren froh, hier im Trocknen und vor ihren gefüllten Gläsern zu sitzen.

Die Zungen lösten sich, und da fast alle diese Engländer beim Sprechen die Augen in die Höhe hoben, schloß der Herzog daraus, daß sie sich über das schlechte Wetter unterhielten. Nicht einer lachte. Fast alle waren in grauen, gelb und rosa gesprenkelten Cheviot gekleidet.

Er warf einen entzückten Blick auf seinen Anzug, der in Farbe und Schnitt wenig von dem der andern abstach, und es war ihm eine Befriedigung, in ihrer Mitte durchaus nicht aufzufallen.

Da schreckte er plötzlich auf.

„Und die Stunde der Abfahrt?“ …

Er zog rasch seine Uhr, sie zeigte jetzt sieben Uhr fünfzig Minuten.

„Ich habe also noch eine halbe Stunde Zeit, hier zu bleiben,“ murmelte er und überdachte nochmals den Plan, den er gemacht hatte.

In seinem zurückgezognen Leben hatten ihn nur zwei Länder angezogen: Holland und England.

Er hatte den ersten seiner Wünsche befriedigt; eines schönen Tages, als er es nicht mehr aushalten konnte, hatte er Paris verlassen und die Städte der Niederlande eine nach der andern besichtigt.

Im ganzen genommen hatte er nur Enttäuschungen auf dieser Reise erlebt. Hatte er sich doch ein Holland nach den Werken von Teniers und Steen, von Rembrandt und Ostade vorgestellt; er hoffte Kirmesse, beständige Schmausereien auf dem Lande und die von den alten Meistern so gepriesne patriarchalische Gutmütigkeit und joviale Liederlichkeit zu finden.

Zwar hatten ihn Haarlem und Amsterdam bezaubert mit dem noch ungehobelten Benehmen des Volkes auf dem Lande. Aber von der ungezügelten Fröhlichkeit und der harmlosen Völlerei hatte er keine Spur bemerkt. Kurz, er mußte zugeben, daß ihn die holländische Schule des Louvre genasführt hatte. Sie war ihm nur ein Sprungbrett zu seinen Träumen gewesen.

Von alledem war nichts zu sehn; Holland war ein Land wie alle andern.

Er sah von neuem nach der Uhr: es fehlten noch zehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Es war die höchste Zeit, die Rechnung zu begleichen und hinüberzugehn.

Er verspürte plötzlich eine außerordentliche Schwere im Magen wie im ganzen Körper.

„Mut!“ murmelte er, stürzte noch schnell ein Glas Brandy hinunter und verlangte seine Rechnung.

Ein Individuum in schwarzem Frack und einer Serviette unter dem Arm, mit spitzem, kahlem Schädel, steifem grauen Backenbart trat heran, einen Bleistift hinter dem Ohr, stellte ein Bein vor das andre, zog ein Notizbuch aus seiner Tasche und, ohne sein Papier anzusehn, die Augen auf die Gaskrone gerichtet, schrieb er alles auf und berechnete die Zeche.

„Hier,“ sagte er, riß das Blatt aus seinem Buche und überreichte es dem Herzog, der ihn neugierig ansah.

„Welch seltsamer John Bull,“ dachte er.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür der Kneipe, Leute kamen herein, die einen Geruch wie von durchnäßten Pudeln mitbrachten. Eine süße und wohlige Erschlaffung bemächtigte sich des Herzogs Jean; er fühlte sich unfähig, seine Beine zu bewegen, ja selbst die Hand auszustrecken, um sich eine Zigarre anzuzünden.

„Vorwärts, es ist die höchste Zeit!“ sagte er sich, ohne sich zu rühren.

Wozu war es nötig, in größter Eile fortzustürzen, wenn man so bequem und so prächtig auf einem Stuhl reisen konnte?

War er nicht eigentlich schon in London, dessen Geruch, dessen Atmosphäre, dessen Einwohner, dessen Futter, dessen Geräte ihn umgaben?

Was konnte er denn erhoffen, wenn nicht neue Enttäuschungen, wie in Holland?

Er hatte gerade noch so viel Zeit, um nach dem Bahnhof gegenüber zu laufen, doch ein gewaltiger Widerwille gegen die Reise erfaßte ihn, und ein unabweisliches Bedürfnis, ruhig zu sitzen, drängte sich ihm mit Gewalt auf.

Nachdenklich ließ er einige Minuten verstreichen, schnitt sich auf diese Weise den Rückweg ab und sagte sich: „Jetzt würde ich mich in die Billettausgabe stürzen, mich mit meinem Gepäck herumstoßen müssen; wie verdrießlich!“ —

Dann wiederholte er sich von neuem: „Im ganzen genommen habe ich gesehn und empfunden, was ich sehn und empfinden wollte. Ich bin mit englischem Leben seit meiner Abreise von Fontenay übersättigt und müßte wahnsinnig sein, wenn ich durch Umherirren meine Eindrücke zerstören sollte.“

„Sieh da,“ fuhr er in seinem Monolog fort und sah auf die Uhr, „die Zeit ist da, heimzukehren!“

Jetzt stand er wirklich auf, ging hinaus und befahl seinem Kutscher, ihn nach dem Bahnhof von Sceaux zurückzufahren, und er kam wieder in Fontenay an mit seinen Koffern, Paketen, Reisedecken, Regenschirmen und Spazierstöcken und empfand die körperliche Abgehetzheit, die moralische Ermüdung eines Menschen, der nach einer langen, gefahrvollen Reise endlich wieder zu Hause anlangt.