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Zweites Kapitel

Nach dem Verkauf seiner Güter nahm Herzog Jean die alten verheirateten Dienstleute zu sich, die seine Mutter gepflegt und die zu gleicher Zeit dem Amte als Verwalter und Kastellane in Schloß Lourps vorgestanden hatten, das bis zur Feststellung des gerichtlichen Verkaufs unbewohnt und leer geblieben war.

Er ließ das Ehepaar nach Fontenay kommen. Sie waren an die Tätigkeit der Krankenwärter, an die Regelmäßigkeit, mit der von Stunde zu Stunde die Arzneien verabreicht wurden, wie an das starre Schweigen des Klosterslebens gewöhnt. Ohne mit der Außenwelt im geringsten zu verkehren, verblieben sie stets in geschloßnen Zimmern hinter verschloßnen Fenstern.

Dem Mann wurde die Reinigung der Zimmer und das Einholen übertragen, die Frau mit dem Kochen beauftragt. Er überließ ihnen den ersten Stock des Hauses, doch mußten sie dicke Filzschuhe tragen. Er ließ Windfänge vor den gut geölten Türen anbringen, und ihre Fußböden mit dicken Teppichen belegen, so daß er ihre Schritte über seinem Kopfe nicht hörte.

Er verabredete ebenfalls mit ihnen eine gewisse Art zu klingeln und bestimmte die Bedeutung der einzelnen Klingelzeichen nach ihrer Kürze und Länge; bezeichnete auf seinem Schreibtisch den Platz, wo sie jeden Monat das Rechnungsbuch hinlegen mußten — kurz er richtete sich so ein, daß er nicht oft genötigt war, sie zu sehn.

Ebensowenig wollte er, da die alte Dienerin manches Mal am Hause vorübergehn mußte, um aus einem kleinen Schuppen Holz zu holen, daß ihn ihr Schatten störe, der dann durch die Scheiben seiner Fenster fiel. Er ließ ihr daher ein besondres Kostüm aus flandrischer Seide mit weißer Mütze und niedergeschlagener breiter schwarzer Kapuze anfertigen, in der Art, wie sie die Frauen des Beguinenklosters in Gent tragen.

Wenn der Schatten dieser Kopfbedeckung in der Dämmerung an seinen Fenstern vorüberglitt, gab er ihm das Gefühl, daß er sich in einem Kloster befinde. Es erinnerte ihn an die stillen frommen Dörfer, die toten und versteckten Stadtviertel einer tätigen und lebhaften Stadt.

Er regelte und stellte auch die Stunden der Mahlzeiten fest, die übrigens wenig gewählt, vielmehr überaus einfach waren, denn die Schwäche seines Magens erlaubte ihm nicht, verschiedne oder schwere Gerichte zu genießen.

Um fünf Uhr im Winter, beim Herannahn der Dunkelheit, nahm er ein leichtes Frühstück ein, das aus zwei Eiern, kaltem Fleisch und Tee bestand. Um elf Uhr hielt er seine Hauptmahlzeit; manchmal trank er etwas Kaffee, Tee oder Wein während der Nacht, und gegen fünf Uhr morgens naschte er wohl noch ein paar leichte Sachen, worauf er sich schlafen legte.

Er nahm diese Mahlzeiten, deren Anordnung und Reihenfolge ein für allemal zu Anfang jeder Jahreszeit festgesetzt wurde, an einem Tisch in der Mitte eines kleinen Zimmers ein, das von seinem Arbeitszimmer durch einen ganz mit dickem Stoff ausgeschlagnen Korridor getrennt und ganz hermetisch verschlossen war, so daß weder Geruch noch Lärm in die beiden andern Gemächer dringen konnte.

Dieses Eßzimmer glich einer Schiffskajüte mit gewölbtem Plafond, im Halbkreis mit Balken, Wänden und Fußböden aus hellem Fichtenholz versehn, mit dem kleinen, runden, ins Holz eingelaßnen Fenster, das der Luftöffnung an den Seiten eines Schiffes nicht unähnlich war.

Gleich japanischen Schachteln, von denen die eine immer in die andre hineinpaßt, war dieser Raum vom Architekten in einen größern eingeschaltet, der als eigentlicher Eßsaal erbaut war.

Dieser hatte zwei Fenster, eines unsichtbar durch eine leichte Bretterwand den Blicken entzogen, das aber durch eine Feder nach Wunsch niedergelassen werden konnte, damit frische Luft durch die Öffnung eindringe, um die Fichtenholzkajüte zirkuliere und sich hier verbreite. Das andre sichtbare Fenster befand sich grade gegenüber dem runden Kajütenfensterchen in der Holzbekleidung, jedoch zugesetzt durch ein großes Aquarium, das den ganzen Raum zwischen dem kleinen runden und dem wirklichen Fenster in der Mauer ausfüllte. Das Tageslicht drang also durch das große Fenster, durch das Wasser und schließlich durch das runde Fenster in die Kajüte.

Wenn dann der Samowar auf dem Tische dampfte und die Sonne im Herbste unterging, rötete sich das Wasser im Aquarium trübe und gläsern und warf einen leichtfeurigen Schimmer auf das helle Getäfel.

Nachmittags manchmal, wenn der Herzog Jean zufällig wach war und aufstand, setzte er den Betrieb der Wasserröhren, die das Aquarium leerten, in Bewegung und ließ es sich wieder von neuem mit frischem Wasser füllen. Indem er dann einige Tropfen farbiger Essenz hineintat, erzeugte er grünliche und gelbliche, milchweiße oder silberne Färbungen, wie sie die natürlichen Gewässer je nach der Farbe des Himmels, der mehr oder minder starken Glut der Sonne oder des nahenden Regens haben, mit einem Wort: wie es die Jahreszeit der Atmosphäre verursacht.

Er bildete sich dann ein, in dem Zwischendeck einer Brigg zu sein; und neugierig betrachtete er wunderbar gearbeitete Fische, die, aufgezogen durch ein Uhrwerk, vor der Scheibe des runden Kajütenfensters vorbeischwammen und in dem künstlichen Gras hängen blieben. Oder er betrachtete, während er den Teergeruch einsog, mit dem man den Raum besprengt hatte, bevor er ihn betrat, die an den Wänden aufgehängten farbigen Stiche, die — wie in den Agenturen der Schiffahrtsgesellschaften — Dampfschiffe auf dem Weg nach Valparaiso oder La Plata vorstellten. Oder er besah die eingerahmten Tabellen, auf denen die Reiseroute der Linie der Postdampfer der Kompanien Lopez und Valéry, die Frachtgelder, die Häfen des Postdienstes im Atlantischen Meer verzeichnet waren.

Dann, wenn er müde war, diese Fahrpläne zu Rate zu ziehn, ließ er seine Blicke über die Chronometer und Kompasse schweifen, über die Winkelmesser und Zirkel, die Fernrohre und Karten, die zerstreut auf dem Tisch lagen, auf dem sonst nur ein einziges Buch aufgestellt war, gebunden in Seehundsleder: Arthur Gordon Pyms Abenteuer, das besonders für ihn auf streifiges Papier reinster Faser gedruckt war, jedes Blatt sorgfältig ausgesucht und mit einer Schwalbe als Wasserzeichen.

Da waren außerdem Fischereigeräte, durch Lehm gezogene Netze, aufgerollte braune Segel, ein kleiner schwarz gestrichner Anker aus Kork, zu einem Haufen nahe der Tür vereinigt, die durch einen kleinen ausgepolsterten Flur in die Küche führte und der ebenso wie der Korridor den Eßsaal mit dem Arbeitszimmer verband, um die Gerüche und den Lärm aufzusaugen.

Auf diese Art verschaffte er sich ohne große Mühe sofort die augenscheinlichsten Eindrücke einer Seereise. Besteht doch das Vergnügen der Abwechslung im Grunde genommen einzig in der Erinnerung und fast niemals in der Gegenwart, in dem Augenblicke selbst. Er kostete sonach diese Abwechslung in vollen Zügen, mit aller Bequemlichkeit, ohne jede Anstrengung und ohne die sonst unvermeidlichen Verdrießlichkeiten in dieser erdachten Kajüte.

Bewegung schien ihm zudem überflüssig, da ihm die Einbildung leicht die gewohnte Wirklichkeit des Lebens zu ersetzen vermochte.

Nach seiner Ansicht war es nämlich möglich, sich die Wünsche, die für die schwierigsten gelten, im normalen Leben künstlich selbst zu befriedigen und dies mittels Täuschung durch eine genaue Fälschung der erwünschten Gegenstände zu tun. Ist es doch klar, daß jeder Feinschmecker heutzutage entzückt ist, wenn er in einem wegen der Vortrefflichkeit seines Kellers berühmten Restaurant die teuern Weine schlürft, die nach Pasteurs Methode aus leichten billigen Weinen hergestellt sind. Falsch oder echt, diese Weine haben ganz dasselbe Aroma, dieselbe Farbe, dieselbe Blume und verursachen also auch dasselbe Vergnügen, das man beim Kosten und Genießen echter und reiner Weine empfindet, die infolge starker Nachfrage schließlich für Gold kaum aufzutreiben wären.

Es unterliegt nach alledem keinem Zweifel, daß sich diese berauschende Abweichung, diese geschickte Lüge und Täuschung des Geistes in die Welt des realen Verstandes übertragen lassen und daß man mithin ebenso leicht wie in der materiellen Welt eingebildete Wonnen genießen kann, die fast in allen Punkten den wirklichen gleichen. Kein Zweifel zum Beispiel, daß man im Notfall dem störrisch langsamen Geiste nachhelfen, beim Lesen einer fesselnd geschriebenen Reisebeschreibung ruhig am Kamin verweilen und sich erfolgreich angenehmen Forschungen hingeben kann. Wie man sich auch — ohne Paris zu verlassen — das wohltuende Gefühl eines Seebades suggerieren kann, da es ja genügt, sich nach Vigier zu begeben, dessen Bäder mitten in der Seine liegen.

Wenn man dort das Wasser der Wanne salzen läßt und nach der Vorschrift des Arzneibuches schwefelsaures Sodasalz und Magnesia hinzufügt und ein kleines Ende Kabeltau aus einer Seilerei mitnimmt und dann den Duft, den dieses Tau noch bewahrt hat, einsaugt und dabei eifrig Joannes Handbuch liest, das die Schönheiten des Strandes, an dem man sein möchte, beschreibt; und wenn man sich dann schließlich noch leise von den Wellen schaukeln läßt, die die Dampfschiffe, die an der schwimmenden Badeanstalt vorbeifahren, in der Badezelle aufwerfen, wenn man das Ächzen des Windes hört, der sich unter den Brücken fängt, und dem dumpfen Lärm der Omnibusse lauscht, die wenige Schritte weiter über Pont-Royal hinwegrollen — ist da nicht die Illusion des Meeres unleugbar da?

Es handelt sich eben nur darum, seinen Geist auf einen bestimmten Punkt zu richten.

Da ist nicht eine ihrer Erfindungen, möge sie für noch so feinsinnig oder noch so großartig gelten, die das Genie des Menschen nicht zu schaffen imstande wäre! Da ist kein Wald von Fontainebleau, kein Mondschein, den nicht eine von elektrischem Licht überflutete Dekoration hervorzuzaubern vermöchte; kein Wasserfall, den die Wasserleitungskunst nicht täuschend nachahmen könnte, kein Felsen, der nicht durch Papiermaché herzustellen wäre, keine Blume, die nicht durch besonderen Taffet und zart bemaltes Papier genau so wiedergegeben werden könnte!

Unzweifelhaft hat diese uralte Schwätzerin Natur die gutmütige Bewunderung der wirklichen Künstler erschöpft, und der Augenblick ist gekommen, sie verbessert zu ersetzen, soweit es sich eben durch die Kunst ermöglichen läßt.

Und dann, um ehrlich zu sein: das ihrer Werke, das fraglos als das künstlichste gilt, die ihrer Schöpfungen, deren Schönheit nach Aller Ansicht die ursprünglichste und vollkommenste ist, das Weib — hat der Mensch nicht seinerseits ein ebenso künstliches Wesen voll von Leben geschaffen, das vom Gesichtspunkt der plastischen Schönheit aus ihr vollkommen gleichwertig ist? Gibt es wohl hienieden ein Wesen, das, in Freuden der Brunst empfangen und mit Schmerzen aus der Mutterschaft hervorgegangen, an Form und Rasse strahlender und prächtiger sei, als das der beiden Lokomotiven, die auf der Nordbahn ihren Dienst verrichten?

Die eine, die Crampton, eine entzückende Blondine, mit scharfer Stimme, von hohem, schlankem Wuchs, eingeschnürt in ein glänzendes Kupferkorsett, geschmeidig — nervös wie eine Katze — eine schmucke goldige Blondine, deren außergewöhnliche Anmut nahezu erschreckt, wenn sie ihre Stahlmuskeln steift und den Schweiß ihrer warmen Schenkel dadurch erhöht, daß sie die ungeheure Rosette ihres zarten Rades in Bewegung setzt und wie rasend an der Spitze des Schnellzuges vorwärts stürmt!

Die andre, die Engerth, eine monumentale, dunkle Brünette mit dumpfen rauhen Tönen, mit stämmigen Lenden, eingepreßt in ihren gußeisernen Panzer, ein unförmiges Wesen mit wilder Mähne schwarzen Rauches und mit sechs niedrigen gepaarten Rädern; welche erdrückende Macht, wenn sie die Erde erzittern macht und plump und langsam den schweren Güterzug hinter sich drein schleppt!

Sicherlich gibt es unter den zarten blonden und den majestätischen brünetten Schönheiten keine derartigen Typen zarter Schlankheit und erschreckender Kraft; auch kann man mit Recht sagen: der Mensch hat, in seiner Art, ebenso Gutes geschaffen wie Gott. —

Diese Betrachtungen kamen des Esseintes, wenn ihm der Wind das sanfte Pfeifen der kleinen Eisenbahn zutrug, die sich wie ein Kreisel zwischen Paris und Sceaux hin und her bewegt.

Sein Haus war ungefähr zwanzig Minuten von der Station Fontenay entfernt; aber die Höhe, auf der es stand, und seine einsame Lage ließen nicht den Lärm des gemeinsamen Lebens bis zu ihm dringen.

Das Dorf selbst kannte er kaum. Durch seine Fenster hatte er eines Nachts die stille Landschaft betrachtet, die sich vor ihm ausbreitete und hinunterzog bis zum Fuß des Hügels, auf dessen Spitze die Batterien des Gehölzes von Verrières aufgepflanzt sind.

In der Dunkelheit rechts und links stiegen verworrne Massen stufenweise auf, in der Ferne von andern Batterien und andern Forts überragt, deren hohe Böschungen im Mondlicht wie in Wasserfarben mit schimmerndem Silber auf dunkelm Himmelsgrund gemalt erschienen.

Zusammengeschrumpft im Schatten der Hügel er schien die Ebene in der Mitte wie mit Mehl bestreut und mit weißem Cold-cream bestrichen. In der warmen Luft, die leise die farblosen Gräser fächelte und würzigen Duft verbreitete, schüttelten die wie mit Kreide übertünchten Bäume im Mondlicht ihr fahles Laubwerk und vergrößerten ihre Stämme, deren Schatten den Gipsboden mit schwarzen Streifen furchten, auf dem die Kieselsteine wie Tellerscherben glänzten. Ihres verkünstelt geschminkten Aussehns wegen mißfiel dem Herzog Jean diese Landschaft nicht. Seit dem Nachmittag, den er auf der Suche nach dem Hause im Dörfchen von Fontenay zugebracht hatte, war er niemals mehr am Tage den Weg gegangen. Das grüne Laub dieser Gegend flößte ihm außerdem kein Interesse ein, bot es doch nicht einmal den zarten melancholischen Reiz dar, der der oft rührend kränklichen Vegetation entströmt, die notdürftig zwischen dem Schutt des Weichbildes nahe den Wällen hervorschießt.

Überdies waren ihm an jenem Nachmittage im Dörfchen einige dickbäuchige Einwohner mit Backenbärten und Leute in Gehröcken mit Schnurrbärten begegnet — Köpfe, die ohne Zweifel der Obrigkeit oder dem Militär angehörten; und seit dieser Begegnung hatte sein Widerwille gegen jedes menschliche Gesicht noch mehr zugenommen.

Während der letzten Monate seines Aufenthalts in Paris, als er alles überwunden hatte, empört durch die allgemeine Heuchelei und vom Weltschmerz niedergedrückt, war die Überreiztheit seiner Nerven derartig gestiegen, daß sich der Anblick mancher Gegenstände oder Wesen seinem Gehirn so tief einprägte, daß es mehrerer Tage bedurfte, um nur die Spuren davon zu verwischen. Unangenehme Gesichter, die sein Blick auf der Straße streifte, waren ihm zur wahren Qual geworden.

So litt er entschieden beim Anblick gewisser Physiognomien, deren hausbackner unfreundlicher Typus ihm wie eine Beleidigung erschienen; es wandelte ihn eine wahre Lust an, die zu ohrfeigen, die da langsamen Schrittes mit gelehrter Miene und gesenkten Augen über die Straße gingen, wie auch die, die sich in den Hüften wiegen und sich gar wohlgefällig in Spiegelscheiben zulächeln, oder die andern wieder, die eine ganze Welt von Gedanken zu bewältigen scheinen, indem sie mit der wichtigsten Miene den albernsten Klatsch und den haarsträubendsten Blödsinn der Tagesblätter verschlingen und einfach wiederkäuen.

Er witterte bei allen eine so eingewurzelte Dummheit, einen solchen Abscheu gegen seine eignen Ideen, eine solche Verachtung der Literatur, der Kunst, kurz, was er verehrte, als wäre es ihnen erblich angeboren oder in ihre beschränkten Krämerseelen eingeankert, die, schließlich nur auf Gaunerei und Geld erpicht, wie alle unbedeutenden und schwachen Geister, nur für niedrige Zerstreuungen der gemeinen Politik eingenommen sind, so daß er wütend nach Hause ging, um sich mit seinen Büchern einzuschließen.

Kurz, er haßte mit ganzer Kraft die neuen Generationen, diese Vertreter moderner Flegelei, die das Bedürfnis haben, überall in den Speisesälen und Kaffeehäusern laut zu schrein und unverschämt zu lachen, die uns auf der Straße wüst anrennen, ohne um Verzeihung zu bitten, oder einem auch wohl einen Kinderwagen zwischen die Beine schieben, ohne sich zu entschuldigen oder kaum den Hut zu lüften.