Der Hanswurst
Februar 1908
Unter dem Zauberstab des liberalen Geistes vollziehen sich merkwürdige Metamorphosen. Man kann blind wetten, daß seine Propheten Hanswurste sind und seine Hanswurste Propheten. Es gibt ein Vorurteil, gegen dessen Sieghaftigkeit keine empirische Wahrheit aufkommt: daß alle Größe, die von Gnaden der Intelligenz besteht, Humbug ist und daß eine Faser echten Wertes dort zu finden sein muß, wo es dem gebildeten Ungeist unserer Tage sich lohnt, zu höhnen oder zu hassen. Es könnte ja ausnahmsweise der Fall sein, daß ein Liebling der Neuen Freien Presse ein Genie ist und ein Verstoßener ein Dummkopf. Aber seien wir nur ungerecht und stören wir uns die Folgerichtigkeit unseres Vorurteils nicht durch die Betrachtung der Fälle, in denen durch einen heillosen Irrtum eine Wahrheit zu dieser Welt gekommen ist. Es ist noch immer gerechter als das intellektuelle Urteil. Wenn auf dem Leichenfeld der liberalen Meinung Auferstehung gefeiert würde, eine Legion gesunder Kerle würde uns die Verluste ermessen lehren, die die Siege des Fortschritts heißen. Wir können nicht sagen, daß die christlich-soziale Politik, die den Stolz auf die Defekte des österreichischen Wesens zum Parteiprogramm macht, unserm Herzen nahesteht. Aber als Reaktion auf einen Liberalismus, der den Stolz auf die Defekte des Menschentums vertritt, ist sie fast ein Kulturfaktor. Am meisten dort, wo sie dem Schwindelgeist, der es auf die Tatsachen so gut wie auf die Gehirne abgesehen hat, einen der gefährlichsten Vorwände entwinden hilft: die Bildung. Die Tendenz zur Wiederherstellung des Chaos ist gegenüber einer korrupten Ordnung der geistigen und wirtschaftlichen Dinge ein Zeichen kultureller Besinnung. Der unverhüllte Barbarismus bricht in die elektrisch beleuchtete, mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattete Barbarei ein. Er wird die Maschinen nicht zum Stillstand bringen, aber er wird den Betrieb einer Intelligenz wohltätig stören, die auf dem besten Wege ist, den Geist auszuhungern. Sie mag nun die ungünstige Meinung, die sie von mir und meinem Wirken hat, getrost zu einem Bannfluch steigern, wenn ich ihr sage, daß ich Herrn Bielohlawek für einen ehrlicheren Diener des kulturellen Fortschritts halte als Herrn Benedikt. Daß die sozialdemokratische Presse den ganzen Hochmut eines nationalökonomisch geschulten Handlungsgehilfentums tagtäglich gegen ihn auffahren läßt, könnte mir ihn noch nicht achtenswert machen, weil die Qualität einer agitatorischen Kraft, die der Haß der feindlichen Partei bescheinigt, nicht mein Interesse hat. Wenn ihm der Schalk der Arbeiter-Zeitung rednerischen Unsinn, den er nie gesprochen hat, immer wieder zuschiebt und einer sachlichen Berichtigung mit der Ausrede der satirischen Absicht begegnet, so beweist der Getroffene schon durch die Abwehr, daß er dem Fassungsvermögen der Volkskreise näher steht als eine Redaktion, die es mit ironischen Glossen regaliert. Volkstümlichkeit aber ist ein Wert, der den Rang in der Partei bestimmen mag; mir ist es gleichgültig, ob Herr Bielohlawek ein Mundwerk hat, um das ihn Herr Schuhmeier beneidet, oder umgekehrt. Mir erscheint der Mann erst betrachtenswert, wenn seine Position nicht vom sozialdemokratischen Haß, sondern vom liberalen Hohn — der freilich auch in jenem durchschlägt — angebohrt wird. Er hat einmal als Parlamentarier den Ausspruch gewagt, daß er die Bücherweisheit »schon gefressen« habe, auf deutsch: nicht fressen wolle. Ein guter Ausspruch. Selbst wenn er sich nicht eigens auf die Kompilatoren und Abschreiber nationalökonomischer Gelehrtheit bezogen hätte. Ein Wort, das erlösend wirkt wie jede kulturelle Selbstverständlichkeit, die man heute unterdrücken muß. Wo einem zwischen Bern und Budapest die Visage des Herrn Ludwig Stein aufstößt, muß man für solche Gradnasigkeiten dankbar sein. Sie können von den Höhen der Kultur oder aus den Tiefen der Nichtkultur kommen: sie sind wertvoll, weil sie einem über die öde Mittellage der Unkultur hinweghelfen. Auf die geistige Bedeutung des Redners darf man aus ihnen nicht schließen, wohl aber auf seinen geistigen Mut. Die Pächter der Bildung schreien in jedem Fall auf, knüppeln den Zeitgenossen mit ihrem Schlagwort nieder, und sie würden es auch tun, wenn er sich einmal den Scherz machte, ihnen zu verraten, daß er gebildet genug sei, um als die Quelle solchen Bildungshasses Schopenhauer oder Lichtenberg anzugeben. Doch wenn die Bildung in Gefahr ist, stellt jeder Trottel seinen Mann. Und Herr Bielohlawek hat die Ehre, als deren Erbfeind seit Jahren die Rubriken des liberalen Zeitungsspottes zu füllen. Würden sich die Redakteure damit begnügen, seine Reden einfach abzudrucken, so käme wohl manches vernünftige Wort in die liberale Presse. Da konnte man zum Beispiel in einem erst um sechs Uhr, also wenns schon finster wird, erscheinenden Blatte die folgenden Sätze finden: »Man kann es ruhig aussprechen, daß die wirkliche Freiheit zu keiner Zeit so mit Füßen getreten wurde, als dies seit der Einführung der freiheitlichen Verfassung der Fall ist. Der Volksbetrug ist viel ärger als in den sogenannten reaktionären Zeiten, aber er wird in schmackhafterer Form serviert.« »Unter Freiheit versteht man heute jegliche Rechtsbeugung und Niedertrampelung aller Autorität.« »Der Liberalismus war der Volksbetrug von oben, die Sozialdemokratie ist der Volksbetrug von unten.« Von diesen und anderen Sätzen sagte nun das Blatt, welches sie unter der Spitzmarke »Authentisches von Bielohlawek« zitierte, sie seien »durch ihren unfreiwilligen Humor überwältigend«, und bezeichnete die vernünftigsten noch durch höhnischen Sperrdruck. Der Redner habe sich beklagt, daß man seine Worte entstellt wiedergebe; nun zitiere man sie nach einem authentischen Bericht. Man hofft, daß er sich von dieser Blamage nicht mehr erholen werde. Aber der Leser sieht erstaunt einen triumphierenden Esel, der die eigene Dummheit bejaht. Denn noch nie sind um sechs Uhr abends so gute Ansichten in Wien verbreitet worden; auch nicht so gut geformte. Die ganze intellektuelle Opferfähigkeit des Freisinns prägt sich in solcher Ahnungslosigkeit einer Selbstpersiflage aus. Dieser Bielohlawek könnte viel gescheiter sein, als er ist — er hat nicht die Gabe, den Gegnern ihre Dummheit zum Bewußtsein zu bringen. Er ist nun einmal der Hanswurst des Liberalismus. Er könnte also ganz gut auch ein Prophet sein. Ich weiß es nicht. Aber warum ihn gerade seine Vergangenheit als Greißler dazu verdorben haben soll, und daß nur die gewesenen Kommis dazu taugen, sehe ich auch nicht ein.