Girardi
März 1908
Er will zur Berliner Bühne übergehen und kehrt wahrscheinlich nicht mehr nach Wien zurück. Das ist keine Theaternachricht. Aber die Bedeutung der Neuigkeit reicht auch über den Leitartikel hinaus. Denn der Leitartikel dient bloß dazu, uns über die kulturellen Sorgen mit politischem Kinderspiel zu betrügen, wie einst das Theater dazu gedient hat, uns über die politischen Sorgen zu beruhigen. Wenn heute in Pilsen um eine Straßentafel gerauft wird, so ist das eine Angelegenheit, die den Leitartikel füllt. Wenn aber der Wiener Kultur das Herz herausgeschnitten wird, so ist es ein Lokalfall, und einer, über den man schweigt. Gäb’s eine Presse, die als Arzt den Puls der kranken Zeit fühlt, anstatt als Spucknapf deren Auswurf zu übernehmen, sie zeigte jetzt ein sorgenvolles Gesicht. In keiner Rubrik dürfte über anderes als über das lokale Symptom einer tödlichen Erkrankung gesprochen werden. Wenn sich der publizistische Schwachsinn wochenlang an die Affäre eines rabiaten Tenoristen klammert, so ist dieses Interesse ein Kulturdokument: denn hier ist unser Horizont mit der Lampenreihe abgesteckt. Aber ein Blitzlicht erhellt ihn, da wir beim Fall Girardi gleichmütig bleiben. Unsere Theatromanie ist eine kulturelle Angelegenheit; aber eine viel wichtigere ist unsere Teilnahmslosigkeit vor einem kulturellen Skandal, der zufällig in der Theatersphäre spielt. Wenn der Wiener Kultur das Herz herausgeschnitten wurde und sie weiterleben kann, so muß sie tot sein.
Sollte das Warenhaus Wertheim nächstens auf die Idee verfallen, uns den Stephansturm abzukaufen, weil es doch unbedingt notwendig ist, daß ein erstklassiger Basar in der Abteilung für Türme auch das beliebte Wiener Genre auf Lager hält, so würden wir uns geschmeichelt fühlen, wenn wir es nicht schon für selbstverständlich hielten. Die Weltausstellungsreife der Wiener Eigenart, das ethnologische Interesse, das man an uns nimmt, die Zärtlichkeit der Berliner für uns — dies alles ist fast so tragisch wie unsere Unempfindlichkeit gegen solches Schicksal. Wir freuen uns, wie sie Stück für Stück von uns ausprobieren und immer mehr Geschmack an unsern Spezialitäten haben und so lange an allem, was wir haben, teilnehmen, bis sie uns eines Tages ganz haben werden. Sie setzen den Wiener auf ihren Schoß, schaukeln ihn und versichern ihm, daß er nicht untergeht. Das macht beiden Teilen Spaß und ist ein Zeitvertreib, der über den Ernst eines Fäulnisprozesses hinweghilft. Wir sind auf unsere Tradition stolz gewesen, aber wir waren nicht mehr imstande, die Spesen ihrer Erhaltung aufzubringen. Unsere Gegenwart war tot, unsere Zukunft ungewiß, aber unsere Vergangenheit war uns noch geblieben. Sollten wir auch die verkommen lassen? Da war es doch klüger, sie einem Volk in Kommission zu geben, das eine hinreichend starke Gegenwart hat, um sich den Luxus einer fremden Vergangenheit leisten zu können. Wir mußten im Luxus darben. Darum war es geraten, unsere Tradition in eine G.m.b.H. umwandeln zu lassen. Als Ausstellungsobjekt wird unsere Echtheit erst zur Geltung kommen; es war ein Irrwahn, von ihr unmittelbar leben zu wollen. Bis die Hypertrophie der technischen Entwicklung, der die Gehirne nicht gewachsen sind, zum allgemeinen Krach führt, ist es das Schicksal der von Müttern gebornen, rindfleischessenden Völker, von den maschinengebornen und maschinell genährten Völkern verschlungen zu werden. In Berlin ißt man, um zu leben, ißt angeblich schlecht und wird fett davon. In Wien lebte man, um zu essen, und verhungerte dabei: weil man vom Essen allein nicht leben kann, so ißt man schließlich vom Leben. In Berlin lebt man, weil man das Leben nicht der Notdurft, sondern die Notdurft dem Leben unterordnet. Wir haben gelebt, wir haben ein Jahrhundert dem Glauben gelebt, daß es nur in Wien die wahren Kipfel gebe. Aber nun stellt sich heraus, daß man in Berlin seit der Einigung Deutschlands durch Bismarck auch über das richtige Kipfelrezept verfügt. Die Echtheit läßt sich als Surrogat herstellen, und den Nerven schlägt es gut an, wenn man nicht für jede Mehlspeis’ wie für eine Gottesgabe danken und nicht jede Unart eines Kellners als Ausdruck von Individualität bewundern muß.
Aber selbst die echte Echtheit ist den Berlinern nicht unerschwinglich: sie sitzt den Wienern so lose, daß man sie ihnen einfach abknöpfen kann. Wir haben dem Aufputz des Lebens dieses selbst geopfert, und jene biegen sich das Geschmeide bei, das an unserem Leichnam hängt. Wir sind hinter künstlerischen Fassaden obdachlos geworden, und diese werden den Berliner Häusern gute Dienste tun. Auf das »Fahr’ ma Euer Gnaden?« gibts nur mehr die Antwort: Nach Berlin!, und wenn Girardi dort seit zwei Monaten an jedem Tag das Fiakerlied singen muß, so klingt es wie eine Friedensbedingung, die die Eroberer einem unterjochten Staat diktiert haben. Preußen führt unsern Schick und unsern Schan als Kriegsgefangene durch die Siegesallee: denn »so wie die zwa trappen, wem S’ no net g’segn haben!« Diese Österreicher sind doch dolle Kerls, aber wenn wir ihnen ihre »Fiaka« nehmen, dann haben wir sie endgültig um die Großmachtstellung gebracht ...
So hoch mag sich preußischer Optimismus versteigen. Aber die Okkupation Girardis ist wirklich eine vaterländische Schmach. Nicht weil wir einen der begabtesten Menschendarsteller, die je auf einer Wiener Bühne gestanden sind, verlieren werden. Das wäre eine Theatersache. Und eine solche, die etwa schon jene ernsthaften Esel nicht kümmert, die die Bedeutung eines Schauspielers an der Literatur, die er fördert, messen. Girardi wiegt mehr als die Literatur, die er vernachlässigt. Er läßt sich von einem beliebigen Sudler ein notdürftiges Szenarium liefern, und in dieses legt er eine Geniefülle, deren Offenbarung erhebender ist als die Bühnenwirkung eines literarischen Kunstwerks, dessen Weihen doch nur der Leser empfängt. Es ist gleichgültig, ob Girardi ein Buch oder eine Buchbinder-Arbeit für seine künstlerischen Zwecke benützt. Spielt er einmal Literatur, so kann sie ihm auch nichts anhaben. Sein Valentin ist das größte Ereignis des Wienerischen Theaters, und wenn man sich erinnert, daß nach diesem Vollmenschen der Siebenmonatsschauspieler Kainz sich an die Rolle wagte, dann möchte man wohl mit den Zähnen knirschen über den verkommenen Geschmack einer Bevölkerung, die nicht einmal der Gedanke an solche Gefahr gemahnt hat, den ureigensten Besitz besser zu hüten. An den Schmarren aber, den Girardi zubereitet, wagt sich kein Stümper, und unsere genießende Erinnerung dieser Gestalten, die eben keines Autors Gestalten sind, bleibt ungetrübt. Die Leere ist hier Spielraum der Persönlichkeit. Und Girardi ist eine der eigenmächtigsten, die je die szenische Gelegenheit zu schöpferischer Darstellung gebraucht haben. Wenn er in einer klebrigen Posse etwa den Rat gab, jeden Menschen in einem Ringstraßenpalais wohnen zu lassen: »und die soziale Frage ist gelöst!« — so war er ein Weiser. Denn der Text war ein seichter Spaß, aber der Akzent war die tiefste Verspottung demagogischer Phrase. Freilich, der Abgang eines Künstlers, der solcher Wirkung fähig war, wäre an und für sich bloß ein Verlust am künstlerischen Kapital unseres Theaterlebens. Und solche Verluste stehen in den letzten Jahren auf unserem Repertoire. Unser Theaterhumor ist landflüchtig geworden. Die aufdringliche Wiener Librettoschande läßt den Individualitäten keinen Quadratmeter Raum, und die ausgestattete Humorlosigkeit der neuberlinischen Tanzposse gelangt bei uns zu Ehren. Darum ist auch jene nestroyfähige Komik, die im Zeitalter der Karczags nur noch in der Provinz hin und wieder ein Obdach findet, vom Theater an der Wien direkt nach Berlin übersiedelt. Oskar Sachs, dessen Schuster Knieriem und dessen Hausknechte — durch ihre Ursprünglichkeit und durch ihre Stilechtheit — theaterhistorischen Wert haben, konnte hier keine Beschäftigung mehr finden, und ähnlich wird es Herrn Straßmeyer ergehen, der unser letzter Volkskomiker ist. Für Wien ist kein Platz mehr in Wien, es gibt unaufhörlichen Zuzug aus Budapest, und wir ergötzen uns an der szenischen Gewandtheit eines Kommishumors, den uns der geistesverwandte Feuilletonismus psychologisch verklärt. Aber für unsere Echtheiten aller Genres beginnt sich die Berliner Warenhauskundschaft zu interessieren. Adele Sandrock ist im Basar des Herrn Reinhardt ausgestellt; denn man muß dort neuestens auch Temperamente haben, nachdem so lange nur Konserven, Krawatten, orthozentrische Kneifer und Tischlampen verlangt worden sind. Die Berliner sind auf den Geschmack der Persönlichkeiten gekommen, der märkische Sand träumt von der Schönheit der Berge, und der feuerspeiende Matkowsky, dessen Schlacken wertvoller sind als alle Schätze des naturalistischen Flachlands, fühlt sich bald nicht mehr vereinsamt. Wenn jetzt auch Girardi hinübergeht, so ist es die schmerzlichste Theatersache, nicht weniger fühlbar im Wiener Kunstleben als der Hingang eines der letzten Burgtheatergroßen.
Nur, daß der Verlust Girardis eben doch mehr als eine Theatersache vorstellt. Denn er bedeutet, daß Wien selbst nach Berlin gegangen ist. Wie groß muß der Überdruß am Österreichischen sein, wenn auch schon Österreich auswandert! Lebt der Körper noch, der die Umzapfung seines Blutes klaglos erträgt? Ich habe kein Gefühl für den stolzen Besitz der Ringstraße an sich selbst. Aber die Ringstraße müßte dieses Gefühl haben. Daß die Donau jetzt über Passau nach Berlin fließt und in die Nordsee mündet, ist eine Angelegenheit, die der Donau nahegehen müßte. Doch sie denkt sich: da kann ma halt nix machen, und wenn man den Wienern erzählte, Österreich habe sich nach Königgrätz verpflichtet, den Girardi an Preußen abzutreten, sie glaubten’s und wären nur froh, den Karczag behalten zu dürfen. Und schon geht der Besitzer von Kastans Panoptikum mit dem Plan um, die Kapuzinergruft zu erwerben, und der Gemeindevorstand von Rixdorf hat beschlossen, zur Belebung der Gegend den Kahlenberg anzukaufen. Und wenn schließlich alle österreichischen Werte, Reliquien, Besonderheiten und Fehler in preußischem Besitz sind, dann erst wird es sich bewahrheiten, daß der Wiener nicht untergeht; er geht nämlich über ... Und während jenes Berlin, das den musikalischen Genuß bisher in Form des Grammophons gekannt hat, sich allmählich auch den Luxus der Musik gönnt, geben uns Wienern von dem lieben Menschen Alexander Girardi nur noch ein paar Grammophonplatten Kunde. Er war Patriot genug, uns vor seiner Übersiedlung etwas hineinzusingen. Ich lasse mir die alten Lieder manchmal aufspielen, denn, klangen sie stets wie der Abschied versinkender Herrlichkeit, so gibt ihnen jetzt das Geräusch des von der Maschine eingefangenen Lebens einen schaurig ergreifenden Ton. »Doch sagt er: Lieber Valentin — mach keine Umständ’, geh —« Und dann —: »Ein Aschen! Ein Aschen!«