Von den Sehenswürdigkeiten
November 1908
In der russischen Kreisstadt Rybinsk, lese ich, werden die Summen, die für die Instandhaltung der Monumente bestimmt sind, zur Instandhaltung der Bedürfnisanstalten verwendet. In anderen Städten wird die umgekehrte Methode geübt. Eine Einteilung ist nirgends zu erzielen. Wenn ich aber die Wahl habe, entscheide ich mich unbedenklich für das System von Rybinsk.
Aus manchen meiner Äußerungen wird man schon entnommen haben, daß ich ein Feind von Sehenswürdigkeiten bin. Nicht als ob ich für die künstlerischen Vorzüge eines Reiterstandbildes blind wäre. Aber ich glaube, daß die Fülle von Reiterstandbildern, durch die sich unser armes Dasein hindurchwinden muß, uns in unserer Entwicklung dermaßen hemmt, daß wir schlechterdings unfähig werden, Reiterstandbilder zu schaffen. Dies war ehedem paradox, aber nun bestätigt es die Zeit, sagt Hamlet. Sein Grab ist heute eine Sehenswürdigkeit von Helsingör. Aber wie konnte es sich als solche erhalten, da doch pietätvolle englische Badegäste die Steine, die die Grabstelle bezeichnen, als Andenken mitzunehmen pflegen? Es konnte sich als Sehenswürdigkeit erhalten, weil der Hotelportier vor Beginn der Saison eine neue Fuhr bestellt, so daß der Vorrat nicht ausgeht. Wenns aber nach der Pietät der englischen Badegäste ginge, gäbe es längst kein Grab Hamlets mehr.
Und ähnlich verhält es sich mit allen anderen Sehenswürdigkeiten. Es gibt deren so viele, daß man sich ganz aufs Sehen verlegt und das Schaffen verlernt. Die Kunst dient dazu, uns die Augen auszuwischen. Wenns auf der Weltbühne nicht klappt, fällt das Orchester ein. Und selbst die ästhetischen Werte des Menschen scheinen bloß die Bestimmung zu haben, uns für eine Lumperei zu kaptivieren. Nun würde ich mich gern von einem Wiener Kutscher überhalten lassen, wenn ers nur nicht mit dem echten Gemütston täte! Und mir von einem italienischen Wirt die Gurgel abschneiden zu lassen, wäre erträglich, wenns nicht mit diesem träumerischen Zug geschähe! Die Unbequemlichkeiten des Daseins nehme ich nur ohne ästhetische Entschädigung in Kauf, und wenn ich einen Verdruß habe, will ich mich nicht bei den Attitüden aufhalten. Schlechte Instrumente taugen nicht, aber wenn sie sich als Individualitäten aufspielen, dann ist doppelte Vorsicht geboten. Der pittoreske Dreck ist die einzige Illusion, gegen die ich ein Vorurteil habe. Ich weiß, nicht alle denken so. Der Philister, der nicht imstande ist, sich seine Gemütserhebungen selbst zu besorgen, muß unaufhörlich an die Schönheit des Lebens erinnert werden. Selbst zur Liebe bedarf er einer Gebrauchsanweisung. Erst wenn ihm eine Schangsonette versichert hat, daß ach die Liebe, ja die Liebe so schön sei, nur müsse man den Zauber auch verstehn — erst dann glaubt ers. Und sein Ehrgeiz ist geweckt; denn: »wer die Liebe zu genießen nicht versteht, der lass’ es lieber gehn, der ist ganz einfach blöd«. Man hat die Wahl, für blöd zu gelten oder die Liebe zu genießen, und zieht natürlich das zweite vor. In Liebe und Leben muß man vor eine fertige Sache gestellt werden, sonst sieht man deren Wert nicht. Man geht über einen Platz, auf dem Gemüsefrauen ihren Stand haben. Der Philister vermißt etwas. Seitdem sich aber zwischen den Gemüsefrauen ein bronzener Feldmarschall erhebt, ist die Sache in Ordnung. Die Lebenswerte müssen ihm vor die Nase gehalten werden. Eine Chansonettensängerin erklärt ihm die Liebe, ein Denkmal mahnt ihn an noch höhere Interessen, und in keiner Lage vermag er des Anschauungsunterrichtes zu entraten.
In Rybinsk wäre er unglücklich. Denn setzen wir den Fall, er käme dort auf dem Bahnhof an und hätte sogleich das Bedürfnis, ein Monument aufzusuchen — die Folgen wären nicht auszudenken. Er müßte warten, bis er wieder nach Berlin kommt. Dort ist vorgesorgt. Denn als ich einmal im Tiergarten einen Schutzmann fragte, wo hier das nächste —, ließ er mich gar nicht erst zu Ende sprechen, sondern verwies mich auf das Denkmal Ottos des Faulen.
Da aber erfahrungsgemäß bloß die Hunde so klug sind, Sehenswürdigkeiten vom Standpunkt der Utilität zu betrachten, und hiebei selbst vor Marksteinen der preußischen Geschichte nicht zurückschrecken, ist es für uns Menschen eine schwere Zeit der Not, in der wir leben. So weit wir uns umsehn können, war eigentlich nur die Wiener Stadtverwaltung bis heute erfinderisch genug, einer Lösung des Problems, wie man das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet, einigermaßen nahezukommen. Nur sie war so klug, den ästhetischen Bedürfnissen des Bürgers gleich an Ort und Stelle Rechnung zu tragen. Hier — wir befinden uns im Zentrum der Stadt — führen ein paar Stufen abwärts zu einer Sehenswürdigkeit, für deren Instandhaltung man selbst in Rybinsk ein Herz hätte. Denn neben allen Wundern einer modernen Architektonik ist es die anmutige Überraschung eines Aquariums, die den Besucher dazu bestimmt, länger zu verweilen, als es unbedingt notwendig wäre, und gern befolgt man die Weisung, vor dem Verlassen der Anstalt die Goldfische zu betrachten. Es dient dem Fremdenverkehr, und man sagt, daß sie den Ort in Begleitung von Fremdenführern besuchen, die diesen Programmpunkt zwischen die Besichtigung der Museen und die Besteigung des Riesenrads einzuschieben pflegen.
An Sehenswürdigkeiten, die bloß das Auge erfreuen, ist ja diese Stadt sonst überreich. Ihre Straßen sind mit Kultur gepflastert, während die Straßen anderer Städte bereits mit Asphalt gepflastert sind. Die Vergangenheit reicht in die Gegenwart hinein, und daraus erklärt sich die bekannte Wiener Unpünktlichkeit. Bahnzeit ist hier einige Minuten hinter der Stadtzeit zurück, aber Stadtzeit einige Jahrzehnte hinter der mitteleuropäischen Zeit. In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus. Jedoch gerade diese bunte Mischung der Zeiten macht unser Stadtbild besonders anziehend. Wenn aus einem Nachtcafé das Volkslied dringt: »Kinder, wer kein Geld hat, der bleibt z’haus, heut komm ich erst morgen früh nach Haus«, so beweist dies an und für sich schon eine gewisse Schlamperei der Consecutio temporum. Aber nur ein paar Schritte hat man vom Nachtcafé ins Mittelalter, denn gerade gegenüber steht der Stephansdom, dem zur Linken ein Einspännerstandplatz und zur Rechten das Grab Neidharts von Reuenthal sich befindet. Ebenso bequem haben es die Besucher eines Champagnerlokals, die, ohne erst lange suchen zu müssen, gleich vor dem Ausgang das Denkmal Karls des Großen und Omnibusverkehr nach allen Richtungen haben. Wer »d’Grinzinger« verläßt, sieht sich einer Fürstengruft gegenüber. Und wer auf dem Gassenstrich manchem ehrwürdigen Wahrzeichen von Wien begegnet ist, bleibt endlich auch vor jenem stehen, in das einst sämtliche wandernden Schlossergesellen ihren Nagel einschlugen, und findet ein Täfelchen daneben, auf dem die Worte zu lesen sind: »Die Sage vom Stock im Eisen ist beim Portier um zwanzig Heller zu haben«. Dieser Portier ist besser dran als sein dänischer Kollege, er kann die Sage verkaufen und muß die Nägel nicht erneuern.
Man wird zugeben, daß hierzulande ein moderner Zug durch die Historie geht. Die praktischen Einrichtungen dieser Stadt mögen nicht immer sehenswert sein, ihre Sehenswürdigkeiten sind durchaus praktisch eingerichtet. Aber es sind eben doch nur Sehenswürdigkeiten, und es gibt deren zu viele. Bedenkt man dazu, daß auch die Menschen dieses Landes einem mehr dekorativen als realen Zweck entsprechen, so bekommt man einen Begriff von der Schwierigkeit des hiesigen Lebens. Im deutschen Norden ist der Sinn für das Ornamentale gerade so weit entwickelt, daß kein Käse ohne Salat auf den Tisch kommt. Der Salat, mit dem die Österreicher sich als ganze servieren, ist ein Orden. Und es gibt hier Menschen, die ganz und gar eine Salatexistenz führen. Der Salat zum Selbstzweck erhoben, ist zum Beispiel ein Stationsvorstand, der von Hoheiten angesprochen wird. Er sieht schön aus, wird zu jedem Schnellzug gezeigt, findet jedoch keine praktische Verwendung. Der Vorstand der nächsten Station, der das ganze Jahr zu keiner Hoheit kommt, muß für nüchterne Betriebszwecke herhalten. In der Regel jedoch haben die Staatsbeamten dekorativen Wert, und zu ihrer Instandhaltung wird an den ästhetischen Sinn des Publikums appelliert, dessen Schutz sie empfohlen sind. Ein besonderer Schmuck unserer Stadt ist neuestens ein Polizeirat, der im Gerichtssaal weint, weil böse Menschen ihn einer geschlechtlichen Betätigung für fähig gehalten haben. Ähnlich geht es in anderen Lebensverhältnissen zu, das Stigma des Malerischen, vor dem ich gewarnt habe, ist hier Ehrenzeichen und Bürgschaft der Karriere, und überall verschwinden die Nutzmenschen hinter den Salatmenschen. Die Leute, die uns bedienen, sind Sehenswürdigkeiten. Der Kutscher ist eine Individualität, und ich komme nicht vorwärts. Der Kellner hat Rasse und läßt mich deshalb auf das Essen warten. Der Kohlenmann singt vergnügt auf seinem Wagen, und ich friere.
Aber wir dürfen nicht murren. Denn die Menschheit ist frei, sie hat sich nach schweren Kämpfen das allgemeine Qualrecht erobert. Sie darbt lieber zwischen den Monumenten, als daß sie sichs in den Bedürfnisanstalten wohl gehen ließe. Nur manchmal, manchmal erfaßt uns eine heimliche Sehnsucht nach der russischen Kreisstadt Rybinsk.