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Selbstbespiegelung

Dezember 1908/
Dezember 1909

»... so hat auch er so lange an seinem eigenen Beifalle zu zehren, ehe eine Welt nachkommt. Inzwischen wird ihm auch jener verkümmert, indem man ihm zumutet, er solle fein bescheiden sein. Es ist aber so unmöglich, daß, wer Verdienste hat und weiß, was sie kosten, selbst blind dagegen sei, wie daß ein Mann von sechs Fuß Höhe nicht merke, daß er die andern überragt ...«

Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung

»Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.«

Sprüche und Widersprüche

Daß ich den Vorwurf der Selbstbespiegelung als die Feststellung eines mir bekannten Wesenszuges hinnehme und nicht mit Zerknirschung, sondern mit einer Fortsetzung des Ärgernisses erwidere, daran sollten sich meine Leser endlich gewöhnt haben. Natürlich tue ichs nicht ihnen zum Trotz, und nicht einmal mir zuliebe. Indem ich über mich spreche, will ich keinen kränken und keinem gefällig sein, sondern nur als Vertreter des österreichischen Geisteslebens der Gefahr vorbeugen, daß es einmal heißen könnte, hierzulande habe niemand über mich gesprochen. Die Wiener Geistigkeit sollte mir dankbar sein, daß ich ihr eine Mühe abnehme und einen Ruf bewahre. Daß aber auch die Freude über ein anerkennendes Wort seiner Wiederholung zugrunde liegt, warum soll ichs leugnen? Wer das Lob der Menge gern entbehrt, wird sich die Gelegenheit, sein eigener Anhänger zu sein, nicht versagen. Phantasie hat ein Recht, im Schatten des Baumes zu schwelgen, aus dem sie einen Wald macht, und es gibt keinen lächerlicheren Vorwurf als den der Eitelkeit, wenn sie sich ihrer selbst bewußt ist. Ich bin so frei, alles Glück der Koterien mir selbst zu bereiten. Der böswilligste Tropf wird nicht glauben, daß ich Wert darauf lege, ein Liebling der Wiener Kritik zu sein, und daß ich mich beklage, weil ichs nicht bin. Aber festzustellen, daß sie ihre täglich wachsende Achtung hinter einer feigen Konvention verbirgt und sich mundtot macht, selbst wo sie sprechen möchte, ist eine Aufgabe, die mir gerade dann obliegt, wenn man mich bloß für einen Aufseher über die korrupten Machenschaften einer Stadt hält. Was hätte ich denn von diesem Schweigen, wenn ichs nicht hörbar machte? Es wäre eine faule Retourkutsche, nicht darüber zu reden.

Aber die Zitierung ausländischer Urteile entspricht auch einer allgemein kunstkritischen Einsicht. Sie bezeichnen nämlich die Distanz, in der fernstehende Leser sich zu einer Produktion befinden, die von lokalen, aktuellen oder zufälligen, fast immer unscheinbaren Anlässen zu perspektivischer Gestaltung gelangte. In dem Milieu, in dem diese Produktion wurzelt, kennt man die Anlässe zu gut, um die Gestaltung zu verstehen. Dieser Unterschied scheint dafür zu sprechen, daß hier von der zeitlichen Entfernung zu erwarten ist, was dort schon die räumliche besorgt, und daß meine Sachen nur veralten müssen, um auch in Wien Aktualität zu erlangen.

Zu solcher Hoffnung berechtigt vor allem das Kopfschütteln, mit dem viele meinen »persönlichen« Publikationen begegnen, und selbst solche Leser, die einem Autor, der sein Tagebuch als Zeitschrift herausgibt, ein für allemal das Recht auf Überraschungen zubilligen. Von einem, der nur den stofflichen Anlaß von Aphorismen sucht, von dem erwarte ich natürlich nichts anderes als die Frage, »gegen wen« sie sich richten. Ich antworte ihm: Gegen mich, ausschließlich gegen mich! Aber das Recht auf Selbstmord will er mir nur dann einräumen, wenn ich ihm auch das Motiv angebe. Sie lesen: »Er« und fragen: »Wer«. Lesern, die ein Liebesgedicht für eine Adresse und die satirische Gestaltung eines Typus für einen Angriff halten, kann ichs und möchte ichs nicht recht machen. Andere wieder kennen den zufälligen Anlaß meiner Selbstzerfleischung: Da wird ihr stoffliches Interesse an dem Fall so sehr befriedigt, daß sie darüber die Perspektive übersehen, und wären sie auch sonst imstande, sie wahrzunehmen. Daß ein Dramatiker das Recht hat, die belangloseste Lebensfigur zu überschätzen und ihre Besonderheiten zu verwerten, wenn sie ihm für die Herausarbeitung des Typischen dienlich scheinen, räumen solche Leser wohl im Prinzip ein. Aber gegebenenfalls benehmen sie sich doch wie vor einem Schlüsselstück. Sie sehen nur das Porträt der ihnen bekannten Person, verkennen den Kunstwert, der die Erinnerung an ein gleichgültiges Modell tilgen müßte, und meinen, es sei diesem »zu viel Ehre« widerfahren. Nur jene werden dem Ausdruck eines Zornes oder einer Liebe gerecht, die den Anlaß nicht suchen und nicht kennen. Sie verlangen nicht, daß einer eine Königin besinge oder einen König tadle, sie würdigen das Gedicht, zu dem ein Narr oder eine Närrin hergehalten hat. Das Recht, sich vom kleinsten Anstoß erregen zu lassen, darf schließlich keinem empfindenden Menschen bestritten werden; und den Anstoß zu prüfen, wenn die Erregung gut war, ist eine Methode, die jedem künstlerischen Unterfangen den Garaus macht. Wer Aphorismen, deren Berechtigung um ihrer selbst willen schon die deutliche Variation desselben Gedankens erkennen läßt und deren Eigenwert nur erhöht scheint, wenn ihr Tempo noch vom Erlebnis beflügelt — wer sie für eine Polemik hält, der mag jedes dramatische Werk, dessen Beziehungen ihm zufällig bekannt sind, für ein Schlüsselstück halten. Er hat eine Prämisse, die er nicht braucht, und glaubt gerade deshalb, daß sie dem anderen fehlen werde. Aber in jenen Aphorismen war für den Fremden nichts vorausgesetzt, nur für den Eingeweihten. Und wo eine Zeile Polemik zu viel wäre, dort können zehn Seiten Satire zu wenig sein. Polemik setzt Notorietät des Übels voraus und erfordert, daß die Gestalt mit der Person kongruent sei. Aber die Lust an der satirischen Gestaltung von Erlebnissen, die objektiv nur wenig bedeuten mögen, habe ich mir nie durch die Furcht benehmen lassen, das Objekt erst bekannt oder beliebt zu machen. Ich habe immer dem kleinsten Anlaß zu viel Ehre erwiesen.

Wem so subjektive Willkür nicht beliebt, mag den Autor meiden; aber er hat nicht in jedem Einzelfalle das Recht, ihn um seiner Konsequenz willen zu tadeln. Daß ich vollends Persönliches persönlich durchgestalte, sollte keinen überraschen, und mir zu verübeln, daß ich mich in den Mittelpunkt meiner eigenen Erlebnisse stelle, ist eine Ungebühr, die ich nicht verdient habe. Der langohrige treue Leser, der mir vorrechnet, wie oft »ich« und »mein« in einer Publikation vorkommen, deren »publizistische« Berechtigung ich nicht Esel genug bin zu behaupten, hat ja von seinem Standpunkt aus recht. Nur begreife ich nicht, warum er so indiskret ist, in das Tagebuch eines andern hineinzusehen. Daß ich so anmaßend bin, es drucken zu lassen, rechtfertigt solche Neugierde noch lange nicht. Betrachtungen über die »Lage« wird man darin nicht finden, und die Nutzarbeit des Putzens einer Reichsfassade kann man von mir nicht erwarten. An solchem Werk wäre allerdings kein »Ich« beteiligt. Aber mir fernstehende und fernlebende Menschen messen den Wert literarischen Schaffens nicht an dem stofflichen Gehalt, der hierzulande meine einzige Daseinsberechtigung ausmacht, sondern erkennen jenen, weil dieser ihrem Verständnis entrückt ist.

Die Enthüllung der Eitelkeit hat noch nie ein Schriftsteller seinem Leser leichter gemacht als ich. Denn wenn er es schon selbst nicht merkte, daß ich eitel bin, so erfuhr er es doch aus den wiederholten Geständnissen meiner Eitelkeit und aus der rückhaltlosen Anerkennung, die ich diesem Laster zuteil werden ließ. Die lächelnde Informiertheit, die eine Achillesferse entdeckt, wird also an einer Bewußtheit zuschanden, die sie schon vorher freiwillig entblößt hat. Aber ich kapituliere. Wenn der fruchtloseste Einwand auch zum zehnten Jahr meiner Unbelehrbarkeit erhoben wird, dann hilft keine Replik. Ich kann pergamentenen Herzen nicht das Gefühl für die Notwehr, in der ich lebe, einflößen, für das Sonderrecht einer neuen publizistischen Form und für die Übereinstimmung dieses scheinbaren Eigeninteresses mit den allgemeinen Zielen meines Wirkens. Sie können es nicht verstehen, daß, wer mit einer Sache verschmolzen ist, immer zur Sache spricht, und am meisten, wenn er von sich spricht. Sie können es nicht verstehen, daß, was sie Eitelkeit nennen, jene nie beruhigte Bescheidenheit ist, die sich am eigenen Maße mißt und das Maß an sich, jener demütige Wille zur Steigerung, der sich dem unerbittlichsten Urteil unterwirft, welches stets sein eigenes ist. Eitel ist die Zufriedenheit, die nie zum Werk zurückkehrt. Eitel ist die Frau, die nie in den Spiegel schaut. Bespiegelung ist der Schönheit unerläßlich und dem Geist. Die Welt aber hat nur eine psychologische Norm für zwei Geschlechter und verwechselt die Eitelkeit eines Kopfes, die sich im künstlerischen Schaffen erregt und befriedigt, mit der geckischen Sorgfalt, die an einer Frisur arbeitet. Die Welt will, daß man ihr verantwortlich sei, nicht sich. Der Welt ist es wichtiger, daß einer sein Werk nicht für groß halte, als daß es groß sei. Sie will die Bescheidenheit des Autors; die der Leistung würde sie übersehen.

Und zur endgültigen Abfertigung des täglich unbescheideneren Schwachsinns, der mir die Befassung mit mir, meiner Stellung, meinen Büchern, meinen Feinden verübelt und mahnend oder höhnend nachweist, daß sie »die Hälfte meiner literarischen Tätigkeit« ausfülle, während sie doch in Wahrheit meine ganze literarische Tätigkeit ausfüllt; und weil man sich vor diesem Pöbel, dem man als Lebender nie zur Autorität wird, nur durch Berufung auf Autoritäten Ruhe verschaffen kann; zur Abführung aller anonymen Ratgeber, und um die Bildung jener weltweisen Nobodys, die gern in Büchern nachschlagen, zu vervollständigen, sei das Wort Schopenhauers mir willkommen: »Daß einer ein großer Geist sein könne, ohne etwas davon zu merken, ist eine Absurdität, welche nur die trostlose Unfähigkeit sich einreden kann, damit sie das Gefühl der eigenen Nichtigkeit auch für Bescheidenheit halten könne ... Die bescheidenen Zelebritäten habe ich stets im Verdacht, daß sie wohl Recht haben könnten ... Goethe hat es unumwunden gesagt: ›Nur die Lumpe sind bescheiden.‹ Aber noch unfehlbarer wäre die Behauptung gewesen, daß die, welche so eifrig von andern Bescheidenheit fordern, auf Bescheidenheit dringen, unablässig rufen: ›Nur bescheiden! um Gottes willen, nur bescheiden!‹ zuverlässig Lumpe sind, das heißt: völlig verdienstlose Wichte, Fabrikware der Natur, ordentliche Mitglieder des Packs der Menschheit.«