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Reformen

Mai 1909

Auf allen Lebensgebieten macht sich das unabweisliche Bedürfnis nach Reformen geltend. Die vollste Zufriedenheit mit dem Bestehenden läßt dennoch eine Sehnsucht unerfüllt: die nach der Reform. Was nützt es, daß man sich auf dem Faulbett der alten Lebensweise streckt, als könnte kein Weckruf einer neuen Zeit das Behagen stören — eines Tages gefallt uns das Muster der Decke nicht mehr und wir verlangen eine Reform. Es gibt keine Tugend, die nicht einer Reform zugänglich wäre; kein Laster, das nicht durch seine ausgesprochene Reformfähigkeit auch den Widersacher versöhnte. Im Anfang war das Nichts, aber am Ende ist die Reform, und Gott schuf die Welt, damit sie die Menschen reformierten, Himmel und Erde. Der Reformhimmel ist kahl, aber praktisch. Er ist ohne den Prunk des Mittelalters, aber mit allem Komfort der Neuzeit eingerichtet, und wenn nicht die Bäffchen wären, nichts würde daran erinnern, daß die Bezugsquelle der hier vorrätigen Dinge die Ewigkeit ist. Aber hier hat der reformwillige Geist des Menschen sein Werk schon getan, und der erfinderischesten Phantasie wird es nicht gelingen, die Nüchternheit des höheren Lebens auszugestalten. Unermeßlichen Spielraum bietet ihr dafür die irdische Welt. Und gerade weil der Drang nach geistiger Einkehr so bald reformiert war, darum stellen Wirtshäuser, Kunststätten und all die Bedürfnisanstalten, die der Mensch braucht, um schon hienieden glücklich zu sein, dem Geist der Neuerung an jedem Tage neue Aufgaben. Der Himmel ist parzelliert und an träge Pächter vergeben, und es berührt beinahe schmerzlich, zu sehen, wie der liebe Gott im Ausgedinge der Entwicklung sitzt. Aber auf Erden hat die Reform keine Grenzen; die Seele ist in einem Weltwarenhaus feil und der Teufel macht seinen Gelegenheitskauf.

... Im Halbschlaf aber, wenn wunderliche Gesichte uns in ein Leben entrücken, dessen Willkür keine Reformen zuläßt, erlösen wir uns von dem Fluch des betriebsamen Tages. Weh dem, den der Alp des wachen Erlebens noch bis dorthin verfolgt! Weh, wer die Spur irdischer Eindrücke in seinen Traum hinübernimmt! Ich sehe jene furchtbaren Gestalten, die mit Fingern auf uns zeigen, da wir einschlafen wollen, auf der Straße, und die Menschen, die auf der Straße mit Fingern auf mich zeigen, umstehen mein Bett. Ich kann diese und jene nicht mehr unterscheiden. Und es ist allerorten ein Geräusch der Banalität, und die große Fliege summt in meinem Zimmer ...

Was fängt die Dummheit mit einer Reform an? Wozu dient ihr die Vereinfachung des Lebens? Wenn sie sich der malerischen Hindernisse begibt, wird sie am Ziel vor Langeweile sterben. Darum denke ich mir die Entwicklung so: Es gibt Rasierapparate. Sie ermöglichen dem Menschen, ein glattes Gesicht zu bekommen, ohne daß es von fremder Hand betastet wird. Aber dabei geht der Mensch der geistigen Anregung verlustig, die ihm bis zur Einführung des Rasierapparats der Raseur geboten hat. Die meisten Menschen fühlen sich seit dem Ankauf einer solchen Maschine aufs Trockene gesetzt. Sie kennen keine Anekdoten mehr, sie haben keine politischen Ansichten, sie wissen nicht, ob schönes Wetter ist, sie erfahren nicht, daß der Doktor Meier, der dicke Herr, der sich immer den Kopf waschen läßt, geheiratet hat, kurzum, sie stehen vor dem Spiegel, setzen den Rasierapparat an und haben das Gefühl einer innern Leere. Sie gehen ein. Wie anders war es ehedem, als noch die individuelle Methode des Rasierens für geistige Abwechslung sorgte. Welch ein Anblick wurde mir, wenn ich einen Friseurladen betrat! Da beugte sich ein anscheinend den besseren Ständen angehörender Herr über die Waschschüssel, schnob und pustete vor feuchtem Behagen und hatte noch die Geistesgegenwart, die Worte hervorzubringen: »Einen Bismarck braucheten wir halt!« Der Friseurgehilfe, an den die Worte gerichtet waren, stimmte zu und begann von den Gewohnheiten eines österreichischen Ministers, den zu bedienen er die Ehre hatte, zu erzählen. »Was S’ nicht sagen! Mit Pomade?« versetzte der verblüffte Gast, und so gab ein Wort das andere, die Friseurstube war erfüllt von den Keimen geistiger Befruchtung, und ein einmütiges Lachen von vier Stühlen zeigte, daß der Humor es war, der die Brücke schlug zwischen den Klassengegensätzen. Die Maschine hatte mit diesem Glück aufgeräumt und mancher gähnt jetzt vor einem Spiegel, in dem er nichts sieht als sein eigenes Gesicht. Denn die Reform ist auf halbem Wege stehen geblieben. Nichts aber wäre der Vervollkommnung so zugänglich wie gerade ein Rasierapparat. Warum sollte man zögern, ihn mit jener letzten Bequemlichkeit auszustatten, die er dem Menschen heute noch vorenthält? Ein Rasierapparat, der nicht zugleich eine Sprechmaschine ist, taugt nichts. Ein Druck sollte genügen, damit man alles das wieder höre, was man so lange entbehrt hat: »Der Winter nimmt heuer kein Ende!« »Jeder hat sein Kreuz!« »Haben Herr Doktor schon gehört, was der serbische Kronprinz wieder ang’stellt hat?« »Ich kenn’ kan Antisemitismus, mir sind alle Kunden gleich, aber auf’n Lueger lass’ i nix kommen!« Und die unentbehrlichen Bemerkungen fachlicher Art. Man kann sich ja auch mit einem Rasierapparat in die Wange schneiden; da sagt er sofort: »Nur ausg’sprengt, Herr von Kohn!« »Nur a Haarl, Herr von Swoboda!« Und zu Beginn der Prozedur würde er sagen: »Herr Doktor kommen gleich dran —!« Und am Ende müßte er ganz laut den Namen des Rasierten rufen, damit dieser ihn nur ja nicht vergesse, und müßte ihm eine ganze Ladung von »Mein Kompliment hab’ die Ehre gut’n Abend ›tänigster Diener ›pfehl mich beehren uns bald wieder!« nachsenden ... Aber er schweigt.

In Berlin werden Reformglücksehen geschlossen, und der Vegetarismus in Kunst und Liebe hat die Reformbühne und das Reformkleid duchgesetzt. Die Devise eines vereinfachten Lebens lautet: Ein Griff — ein Bett! Aber es wird notwendig sein, durch entsprechende Reformen dafür zu sorgen, daß der erneuerten Außenseite der alte Gefühlsinhalt nicht verloren gehe. Ein Automat kann Tränen vergießen, aber was nützt es, wenn er keine Schmerzen spürt? Die Menschheit ahnt, daß der Reformeifer vor einem Hindernis angelangt ist, über das er nicht hinweg kann. Die Reformen entsprangen Bedürfnissen, aber sie haben auch Bedürfnisse geweckt, die nicht befriedigt werden können. Darum kündigt sich da und dort schon eine Reform zum Rückschritt an. Das Überflüssige wird schmerzlich vermißt, und da es nicht maschinell erzeugt werden kann, wird es auf dem Umweg der Natur gesucht. Die wichtigste Neuerung, die die moderne Zeit im irdischen Leben angebahnt hat, ist eine Reform an Haupt und Gliedern. Die Männer wollen wieder einen Bart und die Weiber einen Busen. Man hatte einst das Überflüssige der Geschlechtsmerkmale erkannt und sie abgeschafft. Was war die Folge? Die Weiber vermißten die Barte und die Männer die Busen. Zwei Nachrichten verraten nun, daß ein Rückschlag für die nächste Zeit zu erwarten ist. Bezeichnenderweise ist es die Politik, die ihn befürwortet. Die Wiedereinführung der Barte ist zur demokratischen Forderung erhoben worden, und die Wiedereinführung der Busen zur Parole der Anarchie. Aus Paris wird gemeldet, daß die gesamte Dienerschaft des Elyséepalastes mit dem Streik drohe, wenn ihr nicht das Menschenrecht zuerkannt würde, nach Belieben Schnurr-, Backen- und Vollbarte zu tragen. Der Majordomus überreichte dem Präsidenten der Republik eine Petition, die von allen Kammerdienern, Türstehern, Lakaien, Köchen, Kutschern und Stallpagen unterschrieben und in der ausgeführt ist, daß »in einer Demokratie, welche von den Söhnen der Revolution begründet wurde, niemand das Recht habe, seinem Mitmenschen ein Merkmal der Knechtschaft aufzudrücken«. Der Präsident sei, so heißt es, in größter Verlegenheit. In dem Konflikt zwischen dem Hausgesetz, nach welchem »jeder Dienende die Oberlippe rasiert zu tragen hat«, und den Menschenrechten, die eine Guillotine für Barte nicht kennen, sei aber die Entscheidung nicht zweifelhaft. Zudem habe sich die Dienerschaft an den Arbeitsminister gewendet, nicht nur im Vertrauen auf seine demokratische Überzeugung, sondern auch im Hinblick auf seinen Vollbart. Während man aber in Frankreich noch zögert, liberalen Reformen Eingang zu verschaffen, ist in der Schweiz eine verdächtige Frauensperson angehalten worden, die durch einen vorschriftswidrigen Busen das Bedenken der Behörden erregt hatte. Und richtig, der Griff eines Polizisten genügte, um zu entdecken, daß der Busen mit Dynamit gefüllt war! Man sieht, die Frauenbewegung, die erkannt hat, daß die Allesgleichmacherei nicht genüge, um dem weiblichen Geschlecht zu politischer Anerkennung zu verhelfen, versucht jetzt das andere Extrem. Aber sie hüte sich vor Übertreibungen, sonst macht sie sich verdächtig und verfehlt ihr Ziel. Dieses ist: eine Gesellschaftsordnung, die den Weibern statt des Stimmrechts nur Umarmungen gewähren will, in die Luft zu sprengen.