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Die deutsche Schmach

Mai 1908

Berlin, 4. Mai: »Harden ist damit beschäftigt, die sofortige Verhaftung des Fürsten Eulenburg an der Hand des Gesetzes zu begründen.«

Wenn ich mir von der entfesselten Tatsachenkanaille, die durch die deutschen Lande rast, Menschenopfer fordert und mit ihrem Brüllen die Musik des Gedankens übertönt, eine Gnade ausbitten darf, so wäre es die: von allen Worten, die ich seit einem Jahrzehnt gefunden, und die ungehört verhallt sind, weil es der deutschen Sprache bestimmt ist, an den Fängen der Rotationsmaschine stumm zu verbluten, von allen möge eins nur den Flug ins Weite nehmen, im Schweben stolz wie der preußische Adler, und wenn es niederfährt, eine Majestätsbeleidigung —: das Wort von den Deutschen als dem Volk der Richter und Henker!

Denn in Deutschland gibt es keinen anderen Beruf, zu dem sie sich über allen bundesstaatlichen Zwist, über alle politische Parteiung, über allen Unterschied von Kultur und Klasse so glücklich vereinten, und keinen Beruf gibt es, den sie alle so wenig verfehlt haben, wie diesen. Ist einer Journalist, so schafft ihm eine Tat, ob der anderswo einem Schlächter die Tränen über die Backen liefen, den Ruhm eines Schlachtengewinners. Ist einer ein Kaiser, und weilt er fern der Heimat, so versäumt er es doch nicht, täglich seine Order nach dem blutigen Schauplatz zu senden. Und zwischen den beiden ist Friede, denn es gilt einen Kampf gegen höhere Güter. Es gilt die große Parade der Sittlichkeit, bei der die Generale von den Gemeinen wegen normwidriger Adjustierung getadelt werden. Es gilt das große Reinemachen der Bestialität, und da triumphiert zum erstenmal der deutsche Einheitsgedanke. Der Geisteskämpfer braucht sich nur unter die Straßenrufer zu stellen und mit einer von Woche zu Woche gesteigerten Deutlichkeit zu sagen, daß der sexuelle Habitus eines Flügeladjutanten von der vorschriftsmäßigen Uniform abweiche, und er geht durch alle Stadien eines patriotischen Martyriums als Halbgott der Feder leuchtend hervor. Aber wäre er zufällig Käsehändler, hätte er in seiner Kneipe Enthüllungen aus dem Geschlechtsleben von Hochgestellten zum besten gegeben und ginge die Kunde von Mund zu Mund, er wäre fortan der berühmteste Käsehändler. Die Sache wills! Das öffentliche Ärgernis, das in Deutschland entsteht, wenn zwei Leute ein Geheimnis miteinander haben, macht den berühmt, der dieses als erster verriet, und der Kühne, der die Fenster eines Schlafzimmers aufgerissen hat, gilt als ein Lichtbringer. Denn die Sittlichkeit, die auf dem Lügengrunde der Wahrheit steht, ist ein Kammergut, aber sie gehört zu den Domänen der Demokratie. Die Moral war einst ein Vorurteil der hohen Stände, jetzt ist sie eine Überzeugung des Pöbels, der sie als Waffe gegen die alten Besitzer verwendet. Es gibt keinen höheren Hochgenuß, als vor der Tür des Höchstgebornen kehren zu dürfen.

Und eine staatliche Gerechtigkeit, die zu solchen Genugtuungen hilft, ist wahrlich des Teufels! Der Grundsatz, daß allen gleiches Recht werde, ist vor einer Demokratie, deren Triumphgeheul über jeden Sündenfall des Adels die fürchterlichste Strafverschärfung bedeutet, der bare Vorsatz zum Justizmord. Die Freiheit feiert den großen Sieg der Gesetzlichkeit, denn hier zeigt einmal der Knecht, daß er das gleiche Recht habe wie der Fürst, und speit ihn an aus Überzeugung. Und wie ein Stoffel nach dem andern ersteht, um zu schwören, daß er vor fünfundzwanzig Jahren von jenem »mißbraucht« worden sei, das ist für deutsche Richter ein »ergreifendes und überzeugendes« Schauspiel. Fünfundzwanzig Jahre haben sie’s getragen, sind durch den Mißbrauch, den sie mit sich vornehmen ließen, »vermögende und hochangesehene Bürger Starnbergs« geworden — endlich sagt man ihnen, es sei ein unsittlicher Gewinn, dem sie ihre Wohlhabenheit danken, und im Nu sind Gerichtsstuben und Redaktionen mit bayrischen Hieseln gefüllt, die »Details« zu melden wissen. Leugnet jener, sie mißbraucht zu haben, so sind sie sittlich entrüstet. Es ist eine Läuterung der soeben Enthüllten zu den Enthüllern, die ganz Deutschland mit tiefer Rührung erfüllt. Sie brachen unter der Wahrheit zusammen und stehen auf zu der Anklage gegen den Mann, der sie durch Wohltaten so schwer geschädigt hat. Aber lebten wir in einer lustigeren Welt, wir würden Tränen lachen über dieses Haxenschlagen der Gerechtigkeit, und würden mit naivem Staunen fragen, welcher andern Verwendung der Leib eines Knechts denn würdig sei, der sich fünfundzwanzig Jahre an dem Glück des Mißbrauchtseins wärmt, um im erreichten Wohlstand gegen den Beglücker zu zeugen! Der hätte am Ende sterben können und das Geheimnis wäre nie an jenen Tag gekommen, dessen Sonne im Grunewald über das deutsche Land aufgeht. Noch den Leichnam werden sie schütteln, um vielleicht doch ein bisher unbekanntes Detail herauszubekommen ... Wo ist der deutsche Adel? Wäre die Sittlichkeit nicht ein Fluch, der alle Zungen lähmt, die Freunde des alten Mannes müßten es durchs Land rufen, daß sie ihm ihr Mitleid nicht entziehen, und müßten, auf jeden Knecht ein Herr, aufstehn gegen eine Gerechtigkeit, die Privilegien mit dem Haß des Pöbels quitt macht! Gegen den Wahn eines Rechts, das mit gleichem Maß zu messen vorgibt, wenn es den Hohen wie den Niedern stürzt, und das den Unterschied der Fallhöhe nicht bedenkt und nicht die tausendfache Schmerzhaftigkeit eines Sturzes, den die in der Niederung johlend erwarten. Soweit die deutsche Zunge reicht, leckt sie den Staub von einem Ritterstiefel, um bei Gelegenheit ihn in die Ferse zu beißen. Es ist ein Otterngezücht, das im Schutz des Journalismus und aller Vorwände der Freiheit lebt. Es ist das moralische Kriechtier auf dem Boden der Tatsachenwelt, das zugleich ein Menschenglück vergiftet und die Phantasie einer Gesamtheit erdrosselt!

Was jetzt in Deutschland geschieht, ist der Aufstand der Kammerdiener. So gut haben sie sich in zufriedenen Tagen nie bewährt, sich so offen nie als Domestiken bekannt wie jetzt, da sie sich verleugnen möchten. Von dem höchsten Repräsentanten der Unkultur bis hinunter zu dem Journalisten, der die ostelbischen Familien geistig ausschmarotzt und Moritz und Rina zuerst durch eine lächerliche Kopie kompromittiert hat, ehe er ihnen nachsagte, daß sie Blutschande treiben. Von dem Manne, der mit der Gebärde eines Herodes den Staub aufwirbelt, den seine Günstlinge von den Schuhen schütteln müssen, bis hinunter zu seinem seltsamen Jochanaan, welcher den Dreck aufrührt, den sie von sich gaben, und welcher seit Jahren abgehärmt in einer Zisterne haust, von der man ursprünglich glaubte, sie sei ein Zettelkasten, die aber in Wahrheit ein Detektivbureau ist. »Wo ist er« — tönt es immer wieder von unten — »dessen Sündenbecher jetzt voll ist?« Und er sieht Einen in einem Nachen auf dem See von Starnberg, wie er im Jahre 1883 zu den Jüngern redete. Er behauptet, es sei erweislich wahr, daß im Palaste die Flügel des Todesengels gerauscht haben. Sein Mund ist »wie der Purpur, den die Moabiter in den Gruben von Moab finden«, nämlich in der Gegend von Moabit. Nichts in der Welt ist so rot wie sein Mund. Doch wäre ich Salome, ich verlangte sein Haupt nur, um zu sehen, ob die Welt an Geist verlöre, wenns auf der Silberschüssel liegt!

Dies Drama freilich hat einer geschrieben, von dem es bekannt ist, daß er normwidrig war. Und dafür hat er in der Tretmühle arbeiten müssen. Aber der feige Pöbel, der sich dort und damals zum Richtplatz der Sittlichkeit drängte und der einen gefesselten Künstler bespie, hat Anspruch darauf, um vornehmer Zurückhaltung willen belobt zu werden, wenn man das Bacchanale der Ordinärheit überschaut, das jetzt durch Deutschland rast, dieweil ein Greis mit geschwollenen Beinen auf der Anklagebahre liegt. Daß die Moralkanaille sich gegen das Gerücht empört, der über Nacht aus sozialer Höhe gestürzte Graf Lynar werde im Gefängnis nicht bloß mit Wasser und Brot ernährt, und daß sie sich nicht gegen das Gerücht empört, das Gnadengesuch des schwindsüchtigen Schusters von Köpenick sei abgewiesen worden — es ist ein nationaler Mangel an Erbarmen, der die Nation aus der Reihe der Kulturvölker streichen müßte. Wie aber wird man dem unbeschreiblichen Schauspiel gerecht, das sich jetzt zwischen einem Krankenbett und einem Kaiserthron abspielt und dessen Autor mit freudestrahlendem Gesicht die Tantiemen einstreicht, die die tierischste Gesinnung dem Menschenjammer abgezapft hat? Wie faßt man es, daß im weiten Umkreis dieser Arena, in der ein Sterbender ins Stiergefecht geschickt wird, kein deutsches Herz still steht? Kein Dichter das Volk beschwört, sich von dem Anblick des Grauens zu wenden? Sondern daß sich Dichter finden, die das Opfer als Rehabilitierung des Schlächters feiern! Daß das Glücksgefühl, einen Fürsten bürgerlicher Verfehlungen überführt zu sehen, einen nationalen Blutrausch erzeugt, worin die Wahrheit und die Sittlichkeit als besoffenes Paar auf dem Marsch zu einem Sterbelager torkeln! Es ist über alle Maßen entsetzlich. Und keine Ruhmestat deutschen Namens wird je die Schande löschen, die ihm da eingebrannt ward. In Liebenberg haben die Treiber auf Befehl des kaiserlichen Gastes den Jagdherrn umzingelt. Preußische Geheimpolizisten brachten ein wundes Edelwild zur Strecke. Und ein deutscher Geheimpublizist »ist damit beschäftigt, die sofortige Verhaftung des Fürsten Eulenburg an der Hand des Gesetzes zu begründen«.

Bei Gott, die Arbeit eines Schriftstellers, für die er auf die Nachwelt kommen wird, wenn sie sich seiner Gedankenarmut und sprachlichen Qual wider Erwarten sperren sollte. Es geht ein Gerücht, daß die Gemeinde Grunewald in Anerkennung der literarischen Verdienste ihres größten Sohnes beschlossen hat, den Text eines berühmten Gassenhauers zu ändern; daß sie einen Herzenswunsch unsres Neutöners erfüllen will, indem jetzt endlich gesungen wird: »Im Grunewald, im Grunewald wird die zwischen Rinde und Mark gebettete Masse vergantet«. Das ist erfreulich, — aber kein Dokument seiner Sprachkunst, nein, nur das Gedenken seiner Tatkraft wird den Namen Harden kommenden Geschlechtern überliefern. In Deutschland, wird es heißen, war es im zwanzigsten Jahrhundert möglich, daß ein Mann, der die Feder führte, nicht nur der Tollwut einer paragraphierten Moral Vorschub leistet, sondern auch von Woche zu Woche sich der Erfolge einer Razzia gerühmt hat, an der er zwischen den Polizeihunden »Edith« und »Ruß« teilnehmen durfte. In Deutschland war es möglich, daß ein Literat stolz auf die Ergebnisse von Untersuchungen war, die er im Bunde mit schlichten Erpressern aus dem Volke, mit Milchmeiern und Fischerknechten, wie auch mit Wachtmeistern und Detektivs führte. Daß er nicht bloß »aussprach, was ist«, sondern daß infolgedessen auch wurde, was er ausgesprochen hatte. Daß er einem Kläger das Recht bestritt, über »Regungen, die nie über die Schwelle seines Bewußtseins krochen«, vor Gericht auszusagen, aber selbst immerzu über die Schwelle eines fremden Bewußtseins gekrochen kam und über die Schwelle eines fremden Schlafzimmers. Daß er sich auch in der Gemeinheit als Vollstrecker eines großen politischen Testaments gebärdete — wodurch wir also erfuhren, daß der lebende Bismarck den Fürsten Eulenburg zwar für einen politischen Schädling gehalten hat, aber zu viel Achtung vor dem Menschenwert des Mannes hatte, um dessen sexuelle Verwirrung im politischen Kampfe auszunützen und um eine Henkerarbeit zu verrichten, mit der er den nächsten besten journalistischen Handlanger, etwa Herrn Harden, hätte betrauen können. In Deutschland, wird es heißen, wars möglich, daß sich eine Denunziation, neben der die erwiesene Päderastie eine geistige Leistung ist, als eine Tat der Feder ausschrie. Daß einer den Strangulierern der ursprünglichsten Menschenrechte geholfen, aber in einem Winkel seiner Zeitschrift heuchlerisch die Kultur protegiert und sich bei den Ästheten Absolution geholt hat. Daß er dem Kehrbesen des Polizeigeistes befahl und sich als Märtyrer des freien Worts gehabte. Daß er sich einen Kämpfer des Geistes nannte und in jeder Woche die Verurteilungen und die Selbstmorde zählte, die die Trophäen seines Sieges waren ... Dies wird von der Mischung aus einem Metzger und einer lächerlichen Preziösen auf die Nachwelt kommen, wenn mein Wort längst im Lärm der Rotationsmaschinen verhallt sein wird. Ich bekenne, daß mein Haß der Ausbruch nackten Neides ist!