Musik- und Theaterausstellung
Dezember 1907
Nur so könnte man sich das Vertrauen in eine göttliche Weltordnung erhalten, daß man sich die Dummheit nicht als einen regierenden Faktor und die Schlechtigkeit nicht als Selbstzweck vorstellt, sondern beide als gleichberechtigt und einander paralysierend. Wenn sich die Verzweiflung über das Walten des Stumpfsinns bis zum körperlichen Schmerz verdichtet, bleibt doch die Hoffnung, daß er der Spitzbüberei zur Beute wird. Und Tücke wird in ihrem Lauf durch Einfalt wohltätig gehemmt. Solch harmonischer Ausgleich menschlicher Schwächen vermöchte auch hierzulande die ästhetische Betrachtung zu fesseln, wenn unsere Lumpen nicht so dumm und unsere Dummen nicht solche Lumpen wären. Aber alle Religion und alle Philosophie können über das Gedenken an unsere Musik- und Theaterausstellung nicht hinweghelfen.
Wohin vor den Übeln entfliehen, wenn sie in fiebertraumhafter Verzerrung erscheinen? Erlebnisse, die man in anderen Zonen leicht überstünde, werden hier zu Selbstmordmotiven; was anderswo bloß ein Mangel ist, wird hier zur Katastrophe; das Unzulängliche hier wirds Ereignis. Daß das Knopfloch des Bürgers noch immer jenes letzte Loch ist, in dem das soziale Streben verschwindet: damit könnte man sich in einer Zeit, in der die Maschinen immer komplizierter und die Gehirne immer primitiver werden, zur Not abfinden. Aber in wie schäbiger Verkleinerung erscheinen die menschlichen Lächerlichkeiten in der Wiener Perspektive! Einem Faiseur, der mit Schauspielerphotographien und einem Grammophon eine Musik- und Theaterausstellung macht, ist unsere Eitelkeit so schnell verfallen, wie die Weltkenntnis der Pußtabewohner jenem Fremdling, der ihnen erzählt, der Kronprinz lebe und der Kaiser habe erlaubt, falsches Geld zu verbreiten.
Gibt es einen traurigeren Ehrgeiz als den, ein Komiteemitglied zu sein? Ist er nicht noch schlimmer als Vereinsmeierei? Vereinsmeierei ist der Ausweg der an sich selbst verzweifelnden Dummheit, die erst in der Bestätigung des Ebenbildes ihren Halt findet und erst in der Übereinstimmung gleicher Eigenschaften ihres individuellen Wertes bewußt wird. Sie ist harmlos neben dem unausrottbaren Hang des Philisters, ein Komitee zu bilden. Das Komitee ist die Form, in der sich der individuelle Wert des Philisters von der Außenwelt abhebt. Was dem Vereinsmeier ein Rettungsseil der Bescheidenheit ist, wird dem Komiteemitglied zum Fallstrick des Größenwahns. Der Verein ist eine Fortsetzung der Familie, das Komitee rüttelt an den Grundlagen der Gesellschaft. Die Summe des Unglücks, das die Komiteemitglieder in ihre Lebenskreise tragen, ist gar nicht zu berechnen, und in keinem Fall könnte der Zweck ein wohltätiger genannt werden, dessen sie sich als des Mittels bedienen, um ihre Nullität bemerkbar zu machen. Weil sie aber meist nur über dieses und keine anderen Mittel verfügen, so erleben wir Affären, deren Jammer beinahe die Lächerlichkeit ihrer Urheber gefährdet. Ein reines ästhetisches Vergnügen kann dann nicht mehr aufkommen, aber Nestroy würde sagen, daß wenn auch die Verhältnisse nur klein sind, dem Ehrgeiz, ein Komiteterl zu bilden, doch das Nemesisserl in Gestalt eines Kriserls auf dem Fußerl folgt. Und er hat die Wichtigmacherei des Wiener Spießertums durch und durch gekannt, dieser Menschensorte, die mit dem Vorsatz, daß was g’schehn muß, so viel Stillstand unter die Leut’ gebracht hat. Die Geschichte von der Ausstellung, die mit feierlichen Schwierigkeiten eröffnet wurde, die Veranstaltung eines Defizits zum Zweck zu haben schien und schneller geschlossen worden ist, als ein ordentlicher Krach braucht, um gehört zu werden, ist ein Possenstoff, dessen Brachliegen von der Verarmung des Wiener Geistes so gut zeugt wie je fünfhundert Aufführungen des »Walzertraums« und der »Lustigen Witwe«. In dem kurzen Leben jener Wiener Posse war nie von dem Arrangement einer Ausstellung die Rede, sondern immer nur von einem Arrangement mit den Ausstellern. Unter anderen Nebengeräuschen, die die Eröffnung begleiteten, hörte man den Ausruf des Ehrenpräsidenten: »Was is also mit uns zwa? Glaubst, um fünfhundert Gulden mach ich euch an Wurschtl? Tausend hab i g’sagt!« Aber der Vizebürgermeister von Wien hielt eine Rede, in der er die Zuversicht betonte, daß die Ausstellung zur Hebung des Theaterwesens und somit auch zur sittlichen und geistigen Hebung des Volkes beitragen werde. Seine Worte gingen im Hämmern und Klopfen unter, denn es waren noch nicht alle Gegenstände, die die Entwicklung des Musik- und Theaterlebens illustrieren sollten, aufgestellt und manche Vitrine wurde eben erst mit Reisekoffern, Lebkuchen, Haarnadeln, Lampen und hygienischen Windeln gefüllt. Beinahe wäre auch diese Prozedur wieder durch den Lärm der streitenden Aussteller, der aus dem Komiteezimmer drang, gestört worden, wenn ihn nicht die Volkshymne übertönt hätte, die ein Grammophon exekutierte, während dieses selbst nur durch die Schließung der Ausstellung vor der Exekution bewahrt werden konnte.
Die Polizei war Zuschauer; und sie merkte nicht, daß sie der einzige war. Es gab nämlich auch Dilettantenvorstellungen; aber als Erinnerung an sie bleibt wenigstens ein Rätsel zurück: Was sind »Benke- Abende«? Wir hier müssen, ob wir wollen oder nicht, an der Wiege des Ruhmes stehen, der den Namen eines Komiteemitglieds, eines Gratulanten, eines Teilnehmenden, eines Anwesenden, eines Abwesenden durch die Welt trägt. Unser Gehirn wehrt sich nicht mehr gegen diese fürchterliche Nomenklatur, die der lokale Teil der Zeitungen bedeutet, und schließlich nehmen wir die Grundlosigkeit einer Popularität für jene Tiefe, zu deren Grund man nicht mehr findet. Wien ist der Boden der Persönlichkeiten, die ihre Beliebtheit ihrer Popularität verdanken. Mit einem frohgemuten »Wir kennen uns ja eh’«, stellen sie sich uns vor, und es braucht lange Zeit, bis es einem gelingt, sie verkennen zu lernen. So spie die Musik- und Theaterausstellung Renommeen aus, die uns geblieben wären, wenn man sie nicht rechtzeitig verhindert hätte. Sie hatten die Selbstverständlichkeit für sich und jene Sicherheit, der man erst wenn alles wieder vorüber ist, mit der Frage zu begegnen wagt: Was sind »Benke-Abende«? Heißen sie nach ihm oder er nach ihnen? Denn im Anfang war die »Benke-Feier«, und diese hat den Ruhm des Herrn Benke begründet. Dann wurde er Ehrenpräsident der Musik- und Theaterausstellung und begründete sein Verlangen nach tausend Gulden, die ihm zwar nicht für das Ehrenpräsidium, wohl aber für die Veranstaltung von »vier Benke-Abenden« gebührten. Denn die Veranstaltung solcher Abende muß man sich ungemein schwierig vorstellen. »Ich machte den Vorschlag« schrieb Herr Benke, »mir für vier Abende (Inszenierung, Regie, Repräsentationspflichten und Benke-Abende) ein Honorar von fünfhundert Kronen pro Abend zu bewilligen.« Der Wert einer solchen Veranstaltung hängt also nicht nur an der Strapaze des Künstlers, sondern auch an dem Einsatz des Namens Benke. Sie hat eben ein gewisses Etwas, das den Sonnenthal-Abenden gefehlt hat. »Der arrangierte Benke-Abend«, sagte Benke, »sollte ein Anziehungspunkt der Ausstellung sein«, aber leider, sagte Benke, »fand dieser Benke- Abend in der Ausstellung infolge des schlechten Eindrucks, den sie machte, nicht solchen Zuspruch«, wie seine früheren Benke-Abende. Nun ist es ja ganz gleichgültig, wie Herr Benke den Hüttenbesitzer hinlegt, und es ist auch belanglos, ob er das Honorar für das Ehrenpräsidium oder nur für die Arbeit erhalten hat, ja es ist sogar uninteressant, ob dieser Betrag vom Arrangeur der Ausstellung richtig oder falsch gebucht wurde. Das Peinliche, worüber man nicht hinwegkommt, besteht ausschließlich darin, daß man in einer Stadt lebt, in der es Benke-Abende gibt. Und in der man es als Rehabilitierung auffaßt, wenn einer nachweisen kann, daß er nicht für eine Ehrenstelle, sondern für die Veranstaltung von Benke-Abenden Geld genommen hat. Diese Stadt hat einst einen Wolter-Schrei gehört, und die Wolter hätte sich eher die Zunge abgebissen, ehe sie von einem Wolter-Schrei gesprochen hätte. Damit aber im Fortschritt der Zeit und bei dem allgemeinen Durchgreifen kultureller Errungenschaften auch die Benke-Abende en vogue werden, wird in Wien eine Ausstellungsbühne errichtet, und wenn der Vizebürgermeister die sittliche und geistige Hebung des Volkes in Aussicht stellt, so beeilt sich der Polizeipräsident mit der Hoffnung, daß man endlich »seine Söhne und Töchter wieder beruhigt werde ins Theater fuhren können«, und mit der Überzeugung, daß der Name Benke ein dramaturgisches Programm bedeute.
Aber wenn wir nicht wünschen, daß die Polizei die dramatische Kunst belästige, so wünschen wir erst recht nicht, daß »die Staatsbehörde das Theater des Herrn Benke jederzeit aufs wärmste zu unterstützen« bereit sei. Die Polizei trachte Ausstellungsarrangeure zu erwischen, und lasse den Ehrgeiz fahren, Dramaturgen zu entdecken. Die sittliche Läuterung des Bürgertums einer Großstadt geht sie so wenig an, wie die Eignung eines Provinzhelden, sie herbeizuführen. Wir müssen es uns gefallen lassen, daß unter den Augen dieser aufmerksamen Staatsbehörde ein paar Gschaftlhuber Wien zum Gespött jenes Auslands machen, von dess’ Bezirk kein Wanderer, der einmal hier war, wiederkehrt. Unter den Augen einer Staatsbehörde, die die Taschen des Bürgertums nicht schützt, wenn sie sich allzu willig den Ausstellungsarrangeuren öffnen. Es ist erschütternd, wenn man erfährt, daß an die Veranstaltung einiger Lebzelter kompetenten Orts ethische Erwartungen geknüpft wurden. Aber diesen Schimpf von oben hat sich das geistige Wien im Zweibund der Gehirnerweichung: »Lustige Witwe« und »Walzertraum« redlich verdient. Die volkstümliche Wiener Theaterkunst ist einem Konsortium von Jobbern in die Hände gefallen, und nichts vermöchte diesen Zustand besser zu charakterisieren, als daß über die Landflucht des Humors, die sich mit dem Abgang Girardis vollzog, kein Wort verloren wurde und die Verpachtung eines singenden Kommis die Spalten füllt. Der schreibende Kommis aber verteidigt gar den Sieg der Viktor Leon-Kultur als einen Beweis erhöhter Theaterlust und legt diese als ein Symptom »wirtschaftlicher Hochkonjunktur« aus. O über die hoffnungsfreudige Nationalökonomie, die den beneideten Wohlstand der Librettowucherer über eine Bevölkerung breitet, die noch im Verhungern »Dummer, dummer Reitersmann« singt!
Wie das weiter werden soll, wenn das Rindfleisch immer teurer und die Witwe immer lustiger wird? Man hätte noch die Chance des Nichtuntergehenkönnens, wenn nicht die Spitzbuben hierzulande so dumm und die Dummköpfe so schlecht wären. Der Mischmasch aus dem Dreck aller Kulturen muß sich einmal rächen. Im Wiener beginnt der Hausmeister mit dem Juden, der Älpler mit dem Krowoten zu raufen. Noch eine Schiffahrt des Männergesangvereins, und wir gehen unter. Noch eine Musik- und Theaterausstellung, und wir müssen zusperren. Die Augen Europas sind auf uns gerichtet, und überall hat man schon unsere Operetten ausprobiert, um zu sehen, wie sich die Dinge bei uns gestalten. Einmal, in Zeiten, da das Leben adelig war und die Kunst von guten Eltern, da selbst der Schwachsinn noch Grazie und die Lumperei Stil hatte, sangen sie in Wien: »Scheint die Sonne noch so schön«. Aber jetzt erst geht sie unter, beim Krächzen jener Dohlen, die aufs Gold fliegen und eine der andern kein Auge aushacken. Es will Abend werden. Benke-Abend.