Die Hundsgrotte
März 1909
Ein Ort verborgen unter faulem Nebel,
Von Sümpfen, die herquellen vom Cocytus,
Aushaucht er lauter heiße gift’ge Dämpfe.
Es kann Autumnus keine goldnen Früchte
Hintragen, und der Frühling keine Blumen
Und keine blühnden Zweige voll von Sängern
Der süßen Liebe, keine Nachtigallen.
Hier wohnt das alte Chaos ...
Petronius
Es ist unmöglich, der Justiz Unrecht zu tun. Aus dem flüchtigsten und entstelltesten Gerichtssaalbericht gewinnt man das wahre Bild einer Verhandlung. Es mag der Fall sein, daß kein Wort so gesprochen wurde, wie es der Bericht wiedergibt: die Justiz würde den schärfsten Haß schon darum verdienen, weil sie die Wahrheit hinter die Reklame stellt, weil ihr der Respekt vor der Tagespresse den Willen lähmt, den Bericht zu korrigieren. Die polemische Betrachtung aber, die sich mit den Verbrechen der Justiz befaßt, stützt sich mit Recht auf das Material der Reportage, nicht nur weil die Unwidersprochenheit für die Wahrheit zeugt, sondern weil sie auch eine Gesinnung beweist, der noch schlimmere Wahrheit zuzutrauen wäre. Mein anklägerisches Gewissen bliebe ruhig, wenn sich herausstellte, daß das Gesicht der Sexualjustiz nicht völlig jenem gleicht, das ich mir aus den unwiderlegten Häßlichkeiten ihres Rufs komponiert habe. Ich wüßte, daß es noch häßlicher ist. Bei diesem täglichen Gerichtsstreit zwischen dem Leben und der Borniertheit ist die Unfähigkeit der Berichterstattung eher ein versöhnendes Element. Ob sie will oder nicht, ob sie kann oder versagt, eine Handvoll Unmenschlichkeit holt sie aus diesem Inferno doch hervor. Wer nur mit halbem Ohr hinhört, hört genug, und wer mit einem Stockschnupfen in ein Gerichtszimmer tritt, kriegt dennoch eine Nase voll von den Gerüchen, die ein lebensfeindlicher Geist an den Ort gebannt hat, damit in dieser pflichtenvollen Welt vor allem die Pflicht zu stinken erfüllt werde.
... Unweit von Bajä ist eine Grotte, in der giftige Gase aufsteigen. Zur Ergötzung der Reisenden wurde einst gezeigt, wie lange ein Hund dort verbleiben mußte, um noch atmen zu können. Denn die Reisenden sind widerstandsfähig und opfern dem Genuß einer Sehenswürdigkeit gern die Gesundheit eines Hundes. Da sperrte die grausame italienische Behörde der heimischen Bevölkerung eine Erwerbsquelle und verbot das Tierexperiment. Die Einrichtungen der Staaten aber sind Sehenswürdigkeiten, die der Neugier höherer Wesen dienen. Und diesen überweltlichen Reisenden ist das Vergnügen bis heute nicht geschmälert worden, zu sehen, wie lange Menschen in einer Hundsgrotte verbleiben müssen, um nicht mehr atmen zu können ...
Sagt mir nun einer, so und so hätte sich der Vorgang nicht abgespielt, dann antworte ich, daß die Nachricht von einem Sterbefall noch so übertrieben sein mag: sie ist noch immer nicht übertrieben genug, wenn sie vom Tod bestätigt wird. Die Lobredner unsrer Justiz haben eine fatale Ähnlichkeit mit jenem Tröster, der auf die Klage einer Witwe, ihr Mann sei an einer schweren Lungenentzündung gestorben, die beruhigenden Worte findet, es werde hoffentlich nicht so schlimm gewesen sein. Was die Gerichtssaalberichte melden, hat sich hoffentlich nicht so schlimm zugetragen. Die Verkürzung, in der der Bericht ein Bild der Verhandlung gibt, ist sein Fehler und Vorzug. Sein Fehler, weil er von hundert Angriffen gegen Menschengefühl und Takt kaum fünf berücksichtigt und bei diesen möglicherweise durch Übertreibung einbringt, was er an der Fülle versäumt hat; weil er den phantasielosen Leser nicht allein in den Glauben versetzt, dieser Text sei der Wortlaut, sondern er sei der Inhalt einer fünfstündigen Verhandlung. Die Verkürzung ist aber wieder ein Vorzug, indem die Unperspektive der Darstellung immer der passende Ausdruck der Unterperspektive ist, in der die Justiz das verhandelte Stück Leben sieht. Für den Schall der Lebensfremdheit hat gerade die Dummheit das beste Ohr, und so unwahr sie sein mögen, so wahrscheinlich klingen diese lächerlichen Bemerkungen, die den überlegenen Präsidenten, den neugierigen Votanten und den achselzuckenden Staatsanwälten in den Mund gelegt werden. Ich habe um zweifacher Kontrolle willen manchen Verhandlungen beigewohnt; und ich muß bekennen, daß mein allzuscharfes Gehör mir eine Fülle von Eindrücken gab, aber kein Bild sich entwickeln ließ, und daß ich dieses erst in den ungenauen Berichten fand, die ich am andern Tage zu Gesicht bekam. Kein besserer Abdruck einer geistlosen Willkür wäre herstellbar, und er reicht fast an die Wahrheit des Berichtes heran, den ich im Voraus über jede Verhandlung vor einem Sexualsenat abfassen könnte. Denn er gibt nicht bloß eine Vorstellung von der Gemütsbeschaffenheit der Menschen, die über Menschen richten, von einem Zustand, der zweifeln läßt, ob die Praxis schlechter sei oder die Gesetzlichkeit. Er stellt auch wieder das Gleichgewicht her zwischen einem gegenwärtigen Jammer und der Aussichtslosigkeit aller Reformen. Er vermag in zehn abgerissenen Sätzen eines Zeugenverhörs das Bild einer menschlichen Gesellschaft zu zeichnen, zu deren Lumpenhülle eine geflickte Justiz ganz so paßt, wie zu dieser eine schludrige Presse. Wenn in einem Bericht von zehn Zeilen die gegenseitige Zufriedenheit, die diese Institutionen am Leben erhält, und weiter nichts zum Ausdruck kommt, dann sagt er die Wahrheit. Der Bericht über die Verhandlung gegen »Die Hochstaplerin Berta Hannemann« muß nicht zeigen, daß die Merkmale des Betruges auf die Tat der Angeklagten zutreffen. Aber er zeigt, daß die Merkmale des Betruges auf eine Weltordnung zutreffen, die ein schönes Weib unter der falschen Vorspiegelung des Paradieses durch die Krankheit in den Kerker lockt.
Daß sie sich in der Notwehr so weit vergißt, von der Deutschen Botschaft dreiundzwanzig Kronen und von einem Oberleutnant dreißig als Vorschuß für eine Reise zu verlangen, die sie nicht antritt — das bedeutet gegen den Schwindel, den ihr die Welt vorgemacht hat, nichts, weniger als nichts, aber immerhin sechs Monate Kerker. Sie war einst eine viel umgeilte Komödiantin, und zwischen Petersburg und Buenos- Aires warteten manche Diplomaten, Oberleutnants, vielleicht Staatsanwälte auf das Ende der Vorstellung. Will es der Zufall und ein Bankier steckt sie an. Sie verliert ihre Stimme, sie verliert ihr Engagement, und die Vertreter der sittlichen Ordnung warten jetzt nur noch auf das Ende der Schönheit. Sie können es gar nicht erwarten, und bald werden dieser aufgeregten Spannung die Gerichtssaalreporter gerecht. »Ihr feingeschnittenes Profil, die funkelnden schwarzen Augen«, meint der eine, »lassen trotz der Zerstörung, die Ausschweifung und Trunksucht in ihren Zügen angerichtet, die Spuren einstiger Schönheit erkennen«. Oh, frohlockt ein andrer: »in einem verwaschenen alten Kattunkleid, das Gesicht verblüht und gelb« steht sie heute vor dem Erkenntnisgericht! Spuren einstiger Schönheit?, beruhigt ein Gentleman jenen Bankier, der den Grund zu ihrer andern Karriere gelegt und ihr eine Sinekure für ein solides Leben verschafft hat: »die Angeklagte ist heute eine trotz ihrer fünfunddreißig Jahre schon sehr ältlich aussehende Frau«. »Jugend und Schönheit, mit denen sie bestach, sind dahin« triumphiert der Vertreter eines antikorruptionistischen Blattes, »und es ist nicht mehr die sieghafte Verve, mit der sie spielend leicht ihre Opfer fand«. Er würde sich am Ende auch getrauen, ähnliches dem Bankier nachzusagen, wenn er wüßte, wo der wohnt. Immerhin ist es tröstlich, aus einem unabhängigen Blatte zu erfahren, daß »eine schwere, jahrealte Erkrankung des Blutes die Elastizität der Angeklagten vernichtet hat«. Da man aber in diesem Punkt noch immer nicht ganz sicher ist und Männer zu Falle kommen könnten, die den Spuren einstiger Schönheit errötend folgen, so erklärt der Staatsanwalt, man müsse eine so gefährliche Person unschädlich machen, und beantragt die Abgabe an eine Zwangsarbeitsanstalt. Der Gerichtshof aber schließt sich der Ansicht der Reporter an, beruhigt sich dabei, daß sie ohnedies schon verwese, und läßt es beim Rade bewenden ...
Nichts vermöchte das Verhältnis der Justiz zum Leben besser auszudrücken, als die Erstarrung des journalistischen Wortes zum Klischee. Paragraphe und Phrasen werden mit einer Materie fertig, an der Kunst und Psychologie nur stümpern. Das Handwerk schöpft einen Ozean aus, und es bleibt der »Sumpf der Großstadt«. Irgendwo haben Freude und Jammer zu laute Zwiesprache geführt: »Wieder eine Lasterhöhle ausgehoben.« Zwischen Strafregister und Spitzmarke fristen die Triebe ihr Dasein. »Dann begann sie ihre Laufbahn als Kurtisane und Betrügerin.« Als Vorsatz glaubt man es nicht einmal der Justiz oder der Presse, aber von einer Frau muß es unbedingt gelten. Denn sie rühmte sich hoher Bekanntschaften und »will sogar vorübergehend die Geliebte des serbischen Kronprinzen gewesen sein«. Man denke. Und selbst dem sozialdemokratischen Berichterstatter kommt die Sache nicht ganz richtig vor, da jener Kronprinz »jetzt mit anderen Dingen beschäftigt« sei. Man spürt deutlich, daß an dieser Stelle des Berichts nur durch einen Zufall die Parenthese »Bewegung« ausgelassen wurde. Denn nichts setzt die Kostgänger der Sensation, die zwischen Gericht und Geschlecht spielt, mehr in Erstaunen, als daß die Beziehungen weiblicher Angeklagten in Sphären reichen sollen, die ihrer Nachschau entrückt sind. Daß die Delinquentin »den im hiesigen Landesgericht in Untersuchungshaft befindlichen Pfandscheinschwindler B. zur Heirat zu bewegen suchte«, scheint allen plausibel, aber ein außerehelicher Verkehr mit dem serbischen Kronprinzen — darüber kommt kein Votant hinweg. Man kann es als ein wahres Glück bezeichnen, daß nicht alle Freudenmädchen, die von den Obrenovitsch und Karageorgevitsch ums Honorar geprellt wurden, gezwungen waren, die Deutsche Botschaft zu betrügen; es wäre sonst des Staunens in den Wiener Gerichtssälen kein Ende. Solch eine Abenteurerin richtet genug Schaden an, wenn sie in die bürgerliche Gesellschaft einbricht und dort für die Erregung flüchtigen Sinnenkitzels eine Vermögensleistung begehrt. Noch schummern Schaden, wenn sie nicht einmal bietet, wofür sie im voraus Geld empfangen hat. Ein Opfer meldet sich nach dem andern: sie alle haben annonciert, daß sie eine Maitresse brauchen, die Angeklagte hat Reisevorschuß genommen, aber sie hat sich damit begnügt, aufregende Briefe zu schreiben. Sie sagt zu ihrer Verantwortung, sie habe die ehrliche Absicht gehabt, die Prostitutionsverträge zu erfüllen. Das Gericht aber weist ihr nach, daß sie auch dann sich eines Betruges schuldig gemacht hätte. Denn sie »gab an, sie besitze eine tadellose Vergangenheit, ein sehr gutes Herz, offenen und soliden Charakter«. Ist das wahr, Berta Hannemann? In einem zweiten Brief gab sie freilich an, »sie besitze nichts als ihre Jugend und Schönheit«. Herzeigen! Aber selbst wenn’s wahr ist — über den Widerspruch der beiden Behauptungen kommt kein Votant hinweg. Es wurden jedoch auch Briefe der Angeklagten verlesen, in denen sie angab, »daß sie noch kein Mann berührt habe«. Nun, der Gerichtshof nimmt die Unwahrheit dieser Behauptung als notorisch an. Man kennt diese Sorte von Schwindlerinnen; es ist die weitaus gefährlichste. Es ist jener Betrug, den die Männer am schwersten verzeihen, und wenn auch der Staatsanwalt die Anklage auf ihn nicht ausdehnen kann, als Illustrationsfaktum tut er seine Schuldigkeit. Der Gesetzgeber hat dies Schulbeispiel einer listigen Vorstellung, durch welche jemand in Irrtum geführt oder seine Unwissenheit benützt wird, so daß er an seinem Eigentume Schaden leidet, nicht berücksichtigt, und der Gerichtshof ist nicht einmal in der Lage, den Privatbeteiligten auf den Zivilrechtsweg zu verweisen. Aber die Unglücklichen, die das Opfer des Betruges geworden sind, spüren es allemal, wie hier die Idealkonkurrenz zweier Tatbestände vorliegt: daß eine keine Jungfrau mehr ist (lucrum cessans) und daß sie behauptet hat, es zu sein, und sich das Gegenteil herausstellt (damnum emergens).
Eine Angeklagte, die mit solchen Mitteln gearbeitet hat, die sich durch Trotz dem körperlichen Verfall und durch List der sozialen Verachtung zu widersetzen suchte, muß sich der Hoffnung begeben, daß ihr die irdische Justiz, die in jeder Lage »die Wahrheit und nichts als die Wahrheit« fordert, auch nur mildernde Umstände zubillige. Von welcher Verworfenheit zeugt es, einen annoncierenden reichsunmittelbaren Fürsten, schöne Männergestalt, der zehn Millionen Mark zu besitzen vorgibt und die Bekanntschaft einer Dame mit ebensolchem Vermögen sucht, derart hineinzulegen! Die Berta Hannemann besaß keinen Knopf, und da der »Fürst Bortia« ebensoviel besaß, mußte er die Täuschung doppelt schmerzlich empfinden. Als sie erfuhr, daß er mittellos sei, war sie herzlos genug, die Korrespondenz abzubrechen. Aber der Fürst war noch nicht enttäuscht, schrieb glühende Liebesbriefe »in Verzweiflung, daß ich mit Ihnen die Verbindung verliere«, und bat, ihm wenigstens noch einmal zu schreiben, »wenn Sie mir nicht mehr wünschen«. Was tat sie? Sie nützte diese Korrespondenz aus, um von der Deutschen Botschaft zuerst dreiundzwanzig Kronen und, als ihr diese verweigert wurden, drei zu erbetteln. Man erkundigte sich beim reichsunmittelbaren Fürsten. Dieser, von Berta Hannemann zum Glauben verführt, er besitze zehn Millionen Mark, brachte eben noch so viel Geld auf, um depeschieren zu können, er sei einer Schwindlerin zum Opfer gefallen. »Mir ist wirklich leid, daß die Geschichte so endet«, hatte er ihr kurz vorher geschrieben, »wir hätten sehr glücklich sein können«. Aber weil sie die zehn Millionen nicht hatte, die ihm gerade fehlten, erstattete er die Anzeige bei der Polizei. Der Oberleutnant hätte dies wegen der dreißig Kronen allein noch nicht getan. Aber als ihm »die wirkliche Photographie der Angeklagten gezeigt wurde, war er so empört, daß er sich dem Strafverfahren anschloß«. Der Vorsitzende verliest diese und ähnliche Feststellungen etwa mit jener Zufriedenheit über eine harmonische Weltordnung, die einst das Schöpfungsprotokoll mit dem Fazit besiegelte: Und er sahe, daß es gut war. Durch das Weib kam das Übel in die Welt. Aber die Männer sind ganz so, wie sie sein sollen. Solange der Mann noch nicht völlig vom Weibe enttäuscht ist, schreibt er — wenn er Oberleutnant ist — einen Brief, der die Sätze enthält: »Liebe Freundin! ... Sie wechseln zu oft Ihre Pläne, und kurz vor Ihrer Abreise bekommen Sie ein prächtiges Bukett vom ›Fürsten‹, sind gerührt, bleiben in Wien und ich blamiere mich und fahre umsonst nach Fiume! Ne! Scherz beiseite, das ist nicht nach meinem Geschmack! Warum haben Sie sich denn die Haare schwarz gefärbt? Die waren doch ›goldblond‹. Nicht? Schade! Viele Männer haben ein Faible für blondes Haar, so auch ich. Eigentlich eine blöde Einbildung, was? Im allgemeinen sind aber die blonden Damen doch viel sanfter und etwas weniger launenhaft wie die schwarzen, nicht? In Ihrem vorigen Briefe sagten Sie, der ›Fürst‹ möchte sie gern nackt sehen. Schau, schau! Gar kein übler Geschmack, doch den Anblick gönnen Sie lieber einem Ihrer Freunde, nicht? ... Ich habe nämlich in Wien einige Feindinnen, wissen Sie; da dachte ich mir vielleicht, Sie haben irgendeinen ›Tratsch‹ gehört, nicht? Eine nannte mich ›Tiger‹, ein hübsches Prädikat, was? Wahrscheinlich war ich ihr zu grausam! ... Vielleicht fahren Sie zuerst nach Budapest, nicht? Eine hübsche Stadt, manche Teile sogar schöner als Wien! Und ein lustiges Nachtleben; so eine fesche Zigeunerkapelle, die lasse ich mir gefallen! ... Viel Glück. Herzliche Grüße und einen Abschiedskuß von Ihrem unglücklichen Jules.« Ein prächtiger Brief, was? Ein interessanter Mensch, nicht? Aber bald soll es anders kommen, und der Tiger erwacht. »Madame!« (Bei dieser Anrede kann sich der Vorsitzende, der ein Weltmann ist, eines Mots nicht enthalten: »Wenn man ›Madame‹ schreibt«, meint er, »ist es immer aus!«. Heiterkeit. Die hoffentlich auch nicht ausblieb, als der Vorsitzende das reumütige Geständnis der Angeklagten, sie habe nicht mehr singen können, durch die Feststellung ergänzte: »Ihre Stimme war schon früher durch eine Krankheit beeinträchtigt.«) »Madame! Soeben erhalte ich Ihre flüchtigen Zeilen. Sie nehmen sich nicht einmal die Mühe, mir einen ordentlichen Brief zu schreiben. Da bin ich ganz anders gewöhnt, ich könnte Ihnen sechzehn Seiten lange Briefe von sehr feinen Damen zeigen, welche sich um meine Gunst bemühten! Sie glauben mit einem Ihrer schweifwedelnden Freunde aus Wien zu tun zu haben. Bin kein Gigerl, das den Weibern nachlauft, wissen Sie; ich behandle diese Rasse im Gegenteil mit solenner Verachtung, wie sie es verdient. Ich brauche bei meiner Lebensweise überhaupt keine ›Liebe‹, und wenn ich gerade einmal eine ›Liebe‹ wollte, so habe ich hier genug Frauenzimmer, die sich ein Vergnügen draus machen, wenn ich sie überhaupt ansehe! Sie haben keine Nachricht! Ha! Ha! Sie hätten damals kommen sollen, als ich Sie haben wollte; jetzt kann ich Sie nicht mehr brauchen und will überhaupt nichts mehr von Ihnen wissen! Ich hab mich genug mit Ihnen früher geärgert und pfeif auf so ein herz- und gefühlloses Geschöpf! Lesen Sie die Zeitung, dort steht, daß vor ein paar Tagen ein Offizier, den ich zufällig kenne, das Opfer einer Damenbekanntschaft wurde, indem eine ›Freundin‹ achttausend Kronen aus seiner Wohnung geraubt hat. So ein Gewürm sollte man zertreten, durch welches ein Ehrenmann durchs ganze Leben ruiniert wurde. Ich rate Ihnen, sich ehrliche Arbeit zu suchen und mich nicht mehr zu belästigen, sonst zeige ich Sie noch der Polizei an. Sie sind eine Komödiantin, nichts weiter! Hüten Sie sich, sonst könnte es Ihnen noch schlecht gehen. Sie Schwindlerin! Mit verachtungsvollem Gruß Jules.« ... Das ist der Tiger. Aber er hat sie doch erst angezeigt, als er ihre Photographie sah. (Schau, schau!) Denn sie war nicht mehr schön genug (was?), und ein feiner Organismus kann hinausgeworfene dreißig Kronen vielleicht verschmerzen, wenn er um die »Liebe«, aber nicht, wenn er auch um die Illusion geprellt wird.
Ein Reigen geschädigter Männlichkeit zieht an uns vorüber, der sich trotz Spesenverlust noch sehen lassen kann. Solche Prozesse gegen Weiber, die sich die Haare färben, den Namen ändern und das Alter ungenau angeben, sind nützlich, weil im Zuge der Enthüllungen der wahre Stand der männlichen Ethik bekannt wird. Es ist das untrügliche Zeichen einer Zeit, wie sie die Agenden zwischen den Geschlechtern verteilt hat: ob sich mehr Weiber dem Strafverfahren gegen einen Mann, oder mehr Männer dem Strafverfahren gegen ein Weib anschließen. Unsere bietet das Schauspiel, wie ein Dutzend Inhaber eines sittlichen Bewußtseins, ein Dutzend Träger geistiger Verantwortung und ein Staatsanwalt hinter einem Geschöpf her sind, dessen ganze Wehrkraft gegenüber dem Leben in der Fähigkeit besteht, sich rechtzeitig die Röcke aufzuheben. Das Weib verletzt durch Gewährung die Ansprüche der Moral und durch Versagung die Ansprüche der Unmoral. Aber die Moral, die läßt mit sich reden; sie konzessioniert Freudenhäuser, sie erteilt sogar »Erlaubnisscheine«. Die Unmoral ist unerbittlich, ihre Forderungen sind vollstreckbar und aus jeder Gerichtscausa geht sie mit erhobener Stirn hervor. Was hätte unsre Angeklagte den Getäuschten bieten können? Vielleicht hielt sittliche Verantwortung sie davon zurück, jenes gefährliche Geheimnis an die Männer weiterzugeben, das ihr ein Mann bedenkenlos anvertraut hatte. Sie wollte sich ihre paar Gulden auch ohne die Leistung verdienen, und konnte glauben, daß damit die Illusion, die sie zu bieten imstande war, nicht überzahlt sei. Schließlich möchte man, solange die Männer ungestraft die Frauen anstecken dürfen, wenigstens für ein Gesetz stimmen, das den Frauen erlaubte, einen Tribut von Männern einzuheben, die durch sie vor Ansteckung bewahrt bleiben. Solche Entschädigung sollte rühmlich sein; oder zumindest sollte der Strafsanktion des Betruges eine Vorspiegelung entrückt bleiben, die den Himmel auf Erden verspricht, ohne die Hölle zu gewähren. Es ist eine erbarmungslose Zeit, in der der Verfall des Frauenkörpers ein Ziel sozialer Wünsche bildet, und kein Reporter der Entwicklung vermöchte an ihr Spuren einstiger Schönheit zu entdecken. Aber die namenlose Gemeinheit, die Wonne und Weh des Geschlechts zu einer Prozeßsache macht, sei uns erspart! Die Humanität sehe auf die Menschenopfer, die der Gerechtigkeit gebracht werden. Das Experiment der Hundsgrotte werde in allen Staaten verboten!