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Zerrissenheit

Zerrissenheit. In diesem älteren Ausdruck“ (Gombert ZfdW. 3, 157 belegt ihn im übertragenen Sinne seit 1801) fand Heine das charakteristische Schlagwort für die von Byron stark beeinflußte zwiespältige Stimmung des Jungen Deutschlands. So schreibt er 3, 304 (1829): „Sie sind ein zerrissener Mensch, ein zerrissenes Gemüt, sozusagen ein Byron.“ Und darauf besonders: „Lieber Leser, gehörst du vielleicht zu jenen frommen Vögeln, die da einstimmen in das Lied von Byronischer Zerrissenheit, das mir schon seit zehn Jahren in allen Weisen vorgepfiffen und vorgezwitschert worden … Ach, teurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, dass die Welt selbst mitten entzweigerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so musste es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden.“

Da aber dabei, und nicht zum wenigsten gerade bei Heine, viel eingebildeter Schmerz und selbstgefällige Gespreiztheit mit unterlief, so forderte diese Parole manchen Spott und Hohn heraus. Einige Jahre später betitelte Alex. von Ungern-Sternberg eine Novelle „Die Zerrissenen“ (1832). Überhaupt häufen sich die Zeugnisse für die Wirkung des Schlagwortes in den dreißiger Jahren zusehends. Vgl. Meyer S. 44 und Gombert in der ZfdW. 2, 316 f., wo weitere Belege aus Joel Jacoby, Menzel und anderen angeführt werden. Dazu sei hingewiesen auf Sternberg, Eduard (1833) S. 26: „Mir ist, als wäre jedes zerrissene, mit sich in Zwiespalt lebende Gemüt schon von vornherein romantisch zu nennen.“ Ferner aus Gutzkow, Wally (1835) S. 43: „Sie kennen das zerrissene Prinzip unserer Zeit“ oder S. 77: „Hier ist Raffiniertes, Gemachtes, aus der Zerrissenheit unserer Zeit Geborenes.“ Noch Lenau fragt im Epilog seiner Albingenser (1842):

„Woher der düstre Unmut unsrer Zeit,
Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit?“

Andere Belege, dass auch im fünften Jahrzehnt das Schlagwort lebendig blieb, bieten Marggraff, Gedichte S. 279 (1843), der einen „Stoßseufzer eines Zerrissenen“ bringt, und Nestroy, welcher für eine Posse den Titel Der Zerrissene verwendet (1845), übrigens als Übersetzung des französischen L’homme blasé, wie Arnold in der Zfdösterr. Gymn. 52, 972 angibt.

Feuchtersleben 2, 43 (1834) widmet mit synonymem, ebenfalls älteren Ausdruck ein Gedicht Dem Zerfallenen, während Menzel, Deutsche Literatur 4, 145 und 311 von der modernen „Literatur der Verzweiflung“ zu sprechen liebt. Das Wort „zerrissen“ überdies gebraucht bereits Klinger, Sturm und Drang (1776) in übertragener Pointierung. Siehe den 1. Austritt des 2. Aktes: „Ich bin zerrissen in mir, und kann die Fäden nicht wieder auffinden, das Leben anzuknüpfen. Laß! ich will melancholisch werden.“