Definition des Begriffs Urteil
Über das Urteil, wie vorher über den Begriff und nachher über den Schluß, wäre anstatt einiger Bemerkungen ein ganzes Buch notwendig gewesen, wenn ich den erkenntnistheoretischen Standpunkt der Sprachkritik hätte vergessen wollen. Mir muß es genügen, an einzelnen Eigenheiten der Begriffsfunktion dargetan zu haben, dass das Urteil aus der logischen Disziplin auszuscheiden hat, wie das für den Begriff schon von Schuppe (Logik S. 123) gesagt worden ist. Das lebendige Urteilen ist fremd in der toten Logik. Eine sprachlich und logisch brauchbare Definition des Begriffs "Urteil" ist so wenig zu finden, als das lebendige Denken sich vom Sprechen abgrenzen läßt. Womöglich noch unfruchtbarer waren und mußten sein alle Versuche, Begriff und Urteil logisch sauber voneinander zu scheiden. Der Begriff ist früher da als das Urteil, wenigstens in dem Sinne, wie im Schulunterricht und beim Schwätzen das Wort früher ist als der Satz. Aber wie bei der Sprachentstehung sicherlich der Satz seiner Analyse in Worten vorausging, so kann kein Begriff entstanden sein, wenn er nicht als Niederschlag von Urteilen entstand. Ich möchte das jetzt so ausdrücken: das Urteil besteht sprachlich aus Begriffen, der Begriff entsteht psychologisch aus Urteilen. Natürlich wechseln in diesem Satze Begriff und Urteil je nach dem allgemein psychologischen und nach dem besonders sprachlichen Gesichtspunkte sofort ihre Bedeutung. Und die Unsagbarkeit des Gedankens steigert sich noch, wenn wir uns darauf besinnen, dass es eine psychologische Wissenschaft anderswie als in Sprache nicht gibt, dass eben "psychologisch" kaum etwas Anderes ausdrücken konnte als eine Beziehung zum lebendigen tatsächlichen Denken, zu der psychischen Tätigkeit des Denkens. Freilich hat ein seltsamer Reformator der Logik beklagt, dass die Schullogik sich "nur mit dem tatsächlichen Denken" befasse; ich meine aber, das nicht tatsächliche Denken gehöre weder zur materiellen noch zur psychischen Welt.