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Wahrheit

Die Scholastiker waren bei aller Verkehrtheit im großen ganzen doch im Einzelnen scharfsinnig genug zu bemerken, dass die Logik sie im Kreis herumführte. Sie sahen zwar nicht ein, dass die Logik nur eine Spielerei mit psychologischen Vorgängen ist; aber sie mußten in jedem einzelnen Falle sehen, dass die Logik unfruchtbar ist. Bei einem einzelnen Urteile oder Satze oder einer Aussage kommt es der menschlichen Erkenntnis doch einzig und allein darauf an, ob der Satz wahr sei oder nicht, das heißt ob der auseinander gelegte Begriff mit wirklichen Sinneseindrücken übereinstimme oder nicht. Die Wahrheit aber oder Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist der Logik von Hause aus eine fremde Angelegenheit. Wir werden später sehen, dass sich das bei der Schlußfolgerung nicht ganz so verhält, dass die Logik bei der Schlußfolgerung zwar auch nicht für die Wahrheit der einzelnen Sätze, wohl aber für die Richtigkeit der Registratur eintritt, wie der Leiter eines Krankenhauses nach fachmännischer und behördlicher Anschauung zwar nicht für gute Diagnosen einstehen muß, wohl aber für die Richtigkeit der Bettnummern und die Statistik überhaupt, kurz für die Sauberkeit des Krankenjournals.

Die Wahrheit der Urteile oder Aussagen hat also mit der Logik gar nichts zu tun. In logischer Beziehung ist der Satz "der Kreis ist viereckig" ebenso gut und schön wie der Satz "der Kreis ist rund". Wenn nun die Wahrheit das Einzige ist, was uns an den Sätzen interessiert, wenn ferner die Logik zu deren Wahrheit gar keine Beziehung hat, so hätte die Logik für unsere Aussagen keinen Sinn, und Weiterhin keinen Sinn für unser Denken, das doch nur eine Kette von Sätzen ist. So mußte der rein formalen Logik Gewalt angetan werden; sie wurde ohne jede Legitimation zum Richter über Wahrheit und Unwahrheit ernannt, nicht anders als wie Sancho Pansa auf seinem Esel zum Statthalter über eine Insul gemacht worden ist. Wir wissen, dass unser Denken nur ein Besinnen auf unsere Sinneseindrücke ist, das Gedächtnis in Wortzeichen, wir werden also nicht davor zurückscheuen, den hohen Begriff der Wahrheit etwa mit dem eines gesunden Gedächtnisses zu erklären. Wir wissen nicht, was Wahrheit sonst sein möchte. Die Sprache jedoch, besonders die scholastische Sprache, personifizierte ahnungslos Wahrheit und Unwahrheit in zwei streitenden Weibern, die Sprache löste von dem Fetisch "Gehirntätigkeit" (den ich leider nur mit dem andern Fetisch "Gedächtnis" vertauschen kann) den aufgeputzten Götzen Verstand los und setzte ihn zum Richter ein über die beiden streitenden Weiber. Und wie sich die Dummheit der menschlichen Sprache mitunter in Worten verrät, so war es auch hier. Die Entscheidung über Wahrheit und Unwahrheit wird ein Urteil (judicium, jugement) genannt; ebenso aber der Verstand, der das Urteil fällen soll. Man sieht: der Richter, der personifizierte Verstand, ist nichts als das Wort, das den Satz bedeutet. Das Urteil (die Urteilskraft) beurteilt das Urteil (die Wahrheit des Urteils). Le jugement juge le jugement. Es ist nicht meine Schuld, wenn ein so grausamer Unsinn in logischer Sprache möglich ist; und es ist mein Verdienst, wenn ich diesen Satz, den ich mir eben erfunden habe und den ein Logiker oder Grammatiker für tiefsinnig halten könnte, uneigennützig für grausamen Unsinn erkläre.

Logiker und Grammatiker sind in diesem Falle gleich zu behandeln, weil die logische Richtigkeit eines Satzes mit seiner grammatischen Richtigkeit zusammenfällt. Wenn jemand sagt "alle Bäume haben Blätter", so kann die Logik nicht widersprechen, weil die Grammatik nicht widerspricht. Der Satzbau ist in Ordnung. Was der Richtigkeit dieses Satzes widerspricht, was ihn für falsch erklärt, das ist unser Gedächtnis, das sich auf das Dasein von Nadelbäumen besinnt, oder vielmehr darauf, dass wir gewisse Formen dieses Pflanzenorgans in unserer Sprache nicht Blatt zu nennen pflegen. Und vom Organ des Gingko biloba — wie gesagt — wissen nicht einmal die Botaniker, ob es Blatt, ob es Nade! ist. In einer anderen Sprache mag der Satz "alle Bäume haben Blätter" ein wahrer Satz sein.

Von diesem Punkte scheint mir die ganze Verkennung und Überschätzung der Logik auszugehen. Weil man sich nicht entschließen konnte, die Logik über Bord zu Werfen als eine unfruchtbare, ja perverse Spielerei, darum mußte man ihr ein Urteil über die Wahrheit des Denkens aufhalsen, darum nannte man die einfachsten Sprach- oder Denkbestandteile, die Sätze, mit einer unglücklichen Metapher Urteile, und darum wurde und wird das Urteil definiert als "das Bewußtsein über die objektive Gültigkeit einer subjektiven Verbindung von Vorstellungen". Man achte wohl auf den sprachlichen Ausdruck. Die Definition paßt einzig und allein auf das Urteil im richterlichen Sinne. Das mag ein Bewußtsein von irgend einer Wahrheit sein. Man definiert einfach ein falsches Bild und wendet nachher die Definition auf das bildlich Ausgedrückte an. Das ist genau so, als ob ein Arzt eine Augenoperation an einem Menschen vornehmen wollte, weil der Mensch von einem schlechten Maler schielend gezeichnet worden ist. Wir haben da einfach eine ungewöhnlich schlechte Definition vor uns. Das Wort "Urteil" wird eben in zwei gänzlich verschiedenen Bedeutungen genommen; einmal bezeichnet es den Satz, das andere Mal die Entscheidung über die Richtigkeit des Satzes, einmal den Angeklagten, das andere Mal den Richterspruch oder gar den Richter selbst. Die Wahrheit ist die Gesundheit des Gedächtnisses; die Wahrheit ist das Heiligtum, in welchem das Frauenzimmer Logik zu schweigen hat. Die Wahrheit ist die letzte Sehnsucht der Sprache, ihre Metaphysik; das Urteil über die Wahrheit, das Urteil als eine Entscheidung fällt zusammen mit der Gesamtheit unseres geistigen Lebens; das Urteil im logischen Sinne, der Satz, ist die gemeinste und niedrigste Äußerung dieses Lebens, ist die gleichgültige Verkuppelung zweier Worte. Das Urteil über die Wahrheit ist eine unerreichbare Sehnsucht, ein Phantom wie der Gott im Himmel; das logische Urteil oder der Satz ist handgreiflich und roh wie der Pfaffe, der gewerbsmäßig ein Paar zusammenspricht. Der Satz "der Käse ist reif" ist logisch ebenso gut und schön wie der Satz "die Logik ist ein madiges Nahrungsmittel"; über Wahrheit oder Unwahrheit der Sätze hat die Logik kein Urteil, keine Gewalt, keine Meinung.

Gehört aber die Entscheidung über die Wahrheit eines Satzes nicht vor das Forum der Logik, so hat auch ihre mittlere Stellung zwischen Wirklichkeitswelt und Sprache keinen Sinn mehr. Und die Bemühungen der neuern Logiker, die realen Kategorien über die logischen hinweg zu den grammatischen zu führen, verlieren jede Bedeutung. Wir müssen wieder einmal festhalten, wie es zu diesem Widersinn gekommen ist. Die Menschheit hatte nichts als ihr Gedächtnis oder die Sprache, um sich in der Wirklichkeitswelt zurecht zu finden. Ähnliche Formen der Sprache, aus denen man instinktiv auf ähnliche Verhältnisse der Wirklichkeit schloß, gaben Veranlassung, sprachliche Tatsachen zu ordnen, die man nachher für sprachliche Regeln oder für Grammatik ausgab. Wurden diese Regeln so abstrakt gefaßt, wie die Buchstaben der Algebra für die Ziffern der Arithmetik eintreten, so nannte man diese gegenstandslose Sprachlehre Logik und bestand darauf, ihre Kategorien, also die Wortarten der Sprache, in der Wirklichkeit wieder zu finden, womit man eben das Welträtsel widersinnig zu lösen hoffte, nicht anders, als wenn jemand einen französischen Rebus mit deutschen Worten auflösen wollte. Ganz und gar nicht anders, denn die Wirklichkeit spricht nicht wie die Menschen, nicht in Worten, sondern rebus, in Dingen (I. 159). Wollen die Logiker nun von der Wirklichkeit zur Sprache zurückkehren, so müssen sie wieder den ganzen Umweg über die Logik und Grammatik machen.