Sollen im Urteil
Die Undefinierbarkeit des Urteilsbegriffs hat nicht erst in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, aus dem Urteil einen besonderen Akt des Beurteilens herauszudestillieren, der als Bejahung oder Anerkennung wieder aus der Logik herausfällt, weil Wahrheit ein unlogischer Begriff ist. Schon Occam läßt dem gesprochenen Urteile ein Mentalurteil vorausgehen, welches nullius idiomatis est. Dann findet sich schon bei Spinoza die Behauptung, dass ein Urteil mit jeder Wahrnehmung verbunden sei, was Helvetius zu der Phrase vergröbert: Juger est sentir. Und Hume sieht in der Energie der Wahrnehmung, und wohl darum im Glauben, the first act of the judgment.
Sowie wir aber den Zweck aller Logik, die Beziehung zur Wahrheit, an den Urteilsbegriff heran bringen, wird das Urteil noch problematischer. Logik wird zu einer ethischen Wissenschaft, die ein Sollen vorschreibt. Ein Sollen gibt es aber nicht in der Wirklichkeitswelt, sondern nur im Urteilen oder im Sprechen. Die sprachlosen Kreaturen sollen nichts. In der Welt des Besitzes steht dem Haben ein Soll gegenüber. In der interesselosen Welt des Seins steht dem Sein kein Sollen gegenüber. Nur weil wir etwas wie ein Sollen in unsere Urteile hineinlegen, darum ist das Gefühl der Erwartung, die Zuversicht auf die Wahrheit, so oft mit der Tätigkeit des Urteilens verbunden. Und weil somit das Urteil sich immer mehr von der Logik entfernt, je genauer man es betrachtet, darum hat Schopenhauer doppelt recht mit seinem Worte: "Schließen ist leicht, urteilen schwer." Schwer ist eben nur das Urteilen vor dem Begriff; das Urteilen aus dem Begriff ist so leicht wie das Schließen.