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Der Buchgelehrte

Wir überspringen jetzt die Zwischenzeit und versuchen den gegenwärtigen Zustand zu begreifen. Der heutige Gelehrte hat die Welterkenntnis, über welche unsere Zeit verfügt, nicht mehr in seiner Sprachgewalt, weil er sie nicht mehr in seinem Gehirn hat. Ich wage es nicht, auf die Frage einzugehen, wie sehr sich rein physiologisch das Menschengehirn der Kulturvölker verändert haben muß, um die eigentümliche Art der Büchererinnerung neben der alten Spracherinnerung in sich aufzunehmen; es muß eine gewaltige Entwicklung stattgefunden haben, fast wie in den anderen Jahrtausenden, als die Menschen sprechen lernten. Genug, das heutige Gelehrtengehirn besitzt eine Art abstrakter oder schematischer oder lokaler Erinnerungen an die Bücher, aus denen es jeden Augenblick das gegenwärtige Wissen holen kann. Wer diese mechanische Fächereinteilung in seinem Fachwissen besitzt, der gilt mit Recht für einen Gelehrten. Wirklich gebrauchsfertig hat der einzelne Forscher immer nur einen ganz kleinen Teil seines Spezialgebietes. Das ungeheure Wissen der Gegenwart steckt nicht in den Köpfen, sondern in den Büchern. Wenn man hundert der besten Gelehrten Europas zeitlebens zusammenbrächte, ihnen aber keine Bücher oder Schriften zur Verfügung stellte, so würden sie nicht das gesamte Wissen eines Konversationslexikons aufzubringen imstande sein.

So hat die Schrift (in ihrer äußersten Entwicklung zum Buchdruck) ihre dienende Stellung zur Sprache überwimden und hat in der Praxis der Gelehrtenbetriebe wenigstens einige Mängel der menschlichen Sprache verbessert. Durch den Buchdruck ist das menschliche Wissen von den Schranken des einzelnen Gehirns befreit und von den Wandlungen im lebendigen Organismus. Die Erinnerungen der Menschheit sind noch reicher und fester geworden, nur dass sie im Buche so wenig zu einer Welterkenntnis führen können wie in der Sprache.

Hat nämlich die moderne Naturwissenschaft darin recht, dass das Sehen, Hören usw. nur Symbole der Wirklichkeit darbiete, dass die Sinnesempfindungen nur subjektive Reaktionen auf ewig unbekannte Aktionen der Außenwelt seien, unsere Sinne eben unsere Mittel, dass unser ganzes Vorstellen sogar also selbst nur mittelbares Vorstellen sei: dann verflüchtigt sich schon das Denken, das wir bisher für Denken erster Potenz hielten, zu einem Spiel der Schatten von Schatten, zu einem Mondschattenspiel, und das bloße Lesen der Gelehrten, das Lesen ohne begleitendes Sprechen, wird zu einem gespensterhaften Huschen von Phantomen, die jede direkte Beziehung zu den wirkenden Dingen verloren haben. Solche Gelehrtenarbeit, die doch unsere Bibliotheken füllt, hat für die Erkenntnis des Weltganzen nicht mehr Wert, als für die Erkenntnis der Gravitation das Eselsohr, das der Lehrer in sein Buch macht, wenn der Schuldiener die Stunde geläutet hat. Und doch hat die Gravitation durch Pendelbewegung dem Schuldiener die richtige Zeit verraten.

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