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Psychologie der schriftlichen Sprache

Was man wirklich zu beobachten vermag, das ist etwas weit Geringeres, aber immerhin doch Bemerkenswertes: dass es in unseren Kultursprachen eine immer selbständiger werdende schriftliche Sprache gibt, die ihre eigene Entwicklung hat, die ihrerseits die mündliche Sprache beeinflußt und in der hauptsächlich die Gedankenarbeit wissenschaftlicher Männer vollzogen wird. Um dieses letzten Umstandes willen ist es aber nötig, noch etwas tiefer zu greifen und zu untersuchen, worin sich unsere schriftliche Sprache von der mündlichen Sprache psychologisch unterscheidet. Wie es schon oft über die Grenze des Aussagbaren hinausgeht, mit den Mitteln der Sprache über die Sprache selbst klar zu werden, so ist es nun vollends ein vernichtendes Unternehmen, in schriftlicher Sprache über die schriftliche Sprache denken zu wollen. So mag es dem unseligen Nordpolfahrer zumute sein, wenn er in seinen Träumen dort oben die Achse der Erde zu finden hoffte, dann aber in Wirklichkeit nichts erblickt, nichts, nichts, nichts als eisige Öde, den Tod der Natur und seinen eigenen Tod. Nur freilich könnte vor der Verzweiflung der resignierte Gedanke retten, dass er nur in seiner armen Sprache diese Eisfelder und dieses sein eigenes Auslöschen den Tod zu nennen gewöhnt ist, dass die wirkliche Natur im ewigen Eis und in seinem erstarrten Leichnam nicht anders lebt als in der Üppigkeit der Tropen.

Ich habe also zu untersuchen, worin sich in seiner Psychologie, das heißt in seiner Wirklichkeit oder seiner Wirkung, das gedruckte Wortbild z. B. "Baum" von dem gesprochenen Worte z. B. "Baum" unterscheidet.

Ich muß nun daran erinnern, wie wenig konkreten Wert ich schon dem gesprochenen Worte "Baum" beilege. Es bezeichnet einen außerordentlich umfassenden und dementsprechend einen sehr inhaltsarmen Begriff. Ein konkretes Wort ist "Baum" nur für das Kind, welches es zum erstenmal hört und anwendet. Ich zeige dem Kinde z. B. den müden Fliederbaum vor meinem Hause, spreche dazu das Wort aus, das Kind wiederholt es, aber nur wie einen Eigennamen: "Baum" ist ihm in diesem Augenblicke einzig und allein diese Pflanze an dieser Stelle in dieser Jahreszeit. Das ist Ursprache, das ist beinahe Zeigefingersprache, Eigennamensprache, vorbegriffliche Sprache. Ein Abgrund trennt diese Bedeutung von dem Begriffe "Baum", wie das Kind ihn später gebraucht, wenn es erwachsen ist und seine Muttersprache beherrscht oder gar Botanik studiert hat. Vielleicht wird es dann sogar meinen Fliederstamm gar nicht mehr unter den Begriff Baum bringen wollen, wird ihn vielmehr zu den "Sträuchern" rechnen. Wir wissen von einem anderen Gedankengange her, dass unser Begriff "Baum" eigentlich nicht vorstellbar ist; er ist nur durch Beispiele vorstellbar, von denen jedes mehr ist als der Begriff und an denen kein einziges wahrnehmbares Merkmal dem Begriff "Baum" entspricht. So rein begrifflich angewendet wird das Wort, wenn wir die armselige Tautologie sagen: "die Linde ist ein Baum". Etwas konkreter scheint der Begriff zu werden, wenn der Gebrauch des Wortes, wie in der Erzählung, sich geradezu an die Phantasie wendet. "Auf dem Gipfel des kahlen Berges erblickte ich einen Baum." Das sollte doch vorstellbar sein, denn wir sollen uns ja dabei etwas vorstellen. Man gebe aber einem Maler die Aufgabe, die Vorstellung zu fixieren. Er wird entweder ein Beispiel hinmalen, eine Eiche oder sonst einen bestimmten Baum, oder er wird das Bild ebenso unklar lassen müssen, wie der Begriff es auch in diesem Falle ist. Ein moderner Maler aber wird den Versuch gar nicht wagen. Er wird uns antworten: es sei ihm unmöglich, einen begrifflichen Baum zu malen; auch aus der weitesten Entfernung, auch in der Trübung habe noch jeder Baum seinen ausgesprochenen Charakter, den er, wenn auch noch so verschwommen, festhalten müsse.

In der lebendigen Rede kann jedoch "Baum" auch etwas Wohlbekanntes bezeichnen. Entweder befinden wir uns vor einem Baumindividuum und wollen es nennen, oder wir sprechen von diesem Baumindividuum, wenn es nicht gegenwärtig ist, genau so wie von einer dritten Person, oder endlich es war in einer Erzählung von einem Baumindividuum die Rede und wir erinnern daran nachträglich mit dem zusammenfassenden Worte. Dann ist die lebendige Sprache eigentlich zur vorbegrifflichen Sprache zurückgekehrt und hat das Wort als Eigennamen gebraucht. In diesem letzten Falle bringen wir wie zu jedem Eigennamen eine Stimmung hinzu, die sich im Ton der Stimme und in den begleitenden Umständen, in dem Ausdruck unsers Gesichts und in den Gesten, wenn auch noch so leise, äußert.

Ich brauche nicht besonders darauf hinzuweisen, dass diese letzte Anwendung der Sprache allein in der mündlichen Sprache möglich ist. Die schriftliche Sprache kann wohl durch außerordentliche Kunstgriffe diesen Gebrauch nachahmen und ist dann Poesie. Aber sie kann schwarz auf weiß niemals volle Poesie werden. Es drängt den Dichter wie den Leser zur mündlichen Sprache; und auch ein eingefleischter Büchermensch wird beim Lesen eines Gedichtes, wenn er es schon nicht laut liest, doch unwillkürlich stärkere Bewegungsgefühle hervorrufen und darum verspüren als beim Lesen eines wissenschaftlichen Werkes. Hier haben wir, wie ich glaube, den Punkt vor Augen, an welchem sich die eigentliche schriftliche Sprache von der durch Buchstaben vermittelnden lebendigen Sprache scheidet. Ich bitte wohl darauf zu achten. So lange beim Lesen Bewegungsgefühle vorhanden sind, so lange sind wir auf dem chinesischen Standpunkt noch nicht angekommen. Der Unterschied ist freilich so fein, dass die Selbstbeobachtung vorläufig wenigstens versagt. Aber es ist schematisch klar, dass da keine Bewegungsgefühle mitspielen können, wo das Wortbild allein die Gedankenassoziation vermittelt. Oder vielmehr es läßt sich schematisch annehmen, dass bei der Auffassung von Wortbildern andere Gefühle oder Nervenveränderungen in uns entstehen als bei der inneren Artikulation von Worten. Ich weiß, dass dieses letzte Zugeständnis meinem ganzen Gedankengang eine neue Unsicherheit, Unbestimmtheit, ja Ungenauigkeit verleiht; ich wäre aber nicht wahr, wollte ich in einer Kritik der Sprache jemals daran vergessen, dass jedes Wort ungenau und verschwimmend ist.

Wie dem auch sei, die schriftliche Sprache gibt uns, das heißt unserem Gesichtssinn Wortbilder, welche nicht mehr durch die Bewegungsgefühle der artikulierten Wortlaute auf die Erinnerungen unsers Gehirns wirken. Mit dem eben vorgebrachten Zugeständnis will ich also nur feststellen, dass die Wirkung der schriftlichen Sprache ein wenig anders sei als die der mündlichen. Ich will mich darauf besinnen, dass ein ursächlicher Zusammenhang bestehen bleiben muß und dass einmal die Psychologie auch für die Wortbilder einen Vorgang wird beschreiben können, der den Bewegungsgefühlen der Wortlaute entspricht. Schon jetzt ist die Psychologie des Lesens, die bei Kußmaul noch allzu medizinisch war, durch die methodischen Experimente von B. Erdmann (und R. Dodge) über Stricker hinaus weitergeführt worden.

Worauf es mir ankommt, das ist nun die Tatsache, dass beim mündlichen Sprechen der Zusammenhang zwischen der in Urzeiten zurückliegenden Entstehung des Worts und seinem noch so begrifflichen, toten Gebrauch doch nicht gerissen ist. Alle Milliarden Baumindividuen, welche die Menschheit seit undenkbaren Zeiten wahrgenommen hat, haben ihre Spur in dem Wortlaut Baum zurückgelassen. Das Wort ist ein Teil der ungeheuren Erbschaft, die jeder einzelne in seinem Volk erwirbt, um sie zu besitzen. Das Erwerben jedes einzelnen Wortes besteht darin, dass er einen Bruchteil der Sinneseindrücke der Menschheit persönlich mit dem Worte verbunden hat. Er kann im Geschnatter des Alltags das Wort vorstellungslos gebrauchen, er kann es in einer wissenschaftlichen Darlegung vorstellunge.los hören oder aussprechen; aber die Vorstellung steht immer an der Schwelle, die leiseste Hemmung, die flüchtigste Aufmerksamkeit, ein Hauch der Erinnerung genügt, um an das Bewegungsgefühl des gesprochenen Worts ein konkretes Beispiel oder eine verschwommene, unklare, echt menschliche Vorstellung eines Baumes zu knüpfen. Die Verbindung zwischen dem Sinneseindruck und ihren Spuren im Bewegungsgefühl ist noch nicht gerissen.

Diese Verbindung reißt aber entzwei, sobald in der schriftlichen Sprache kein Bewegungsgefühl erzeugt wird. Ich weiß natürlich, dass diese Metapher vom Abreißen unrichtig ist, dass sie übertreibt, dass sie die Metapher der Hyperbel ist. Denn wäre die Verbindung tatsächlich zerrissen, so wäre ja die Möglichkeit ausgeschlossen, sich bei der schriftlichen Sprache etwas zu denken, sie wieder in lebendige Sprache zurück zu übersetzen. Es wird also auf eine neue, feinere Verbindung hinauslaufen, die wir mit unserer groben Mikroskopik natürlich nicht nachweisen können. Und die Möglichkeit einer Rückübersetzung in die mündliche Sprache oder in die artikulierte Schriftsprache beweist uns, dass die schriftliche Sprache doch noch nicht den Zusammenhang mit unseren Erkenntnisquellen verloren hat, mit unseren Sinneseindrücken. Diese Möglichkeit, ja die Schnelligkeit, mit welcher eine solche Rückübersetzung unbewußt geschehen kann, erklärt es auch, warum eine literarische Literatur, eine schriftliche Poesie bestehen kann. Die Begabung eines Dichters ließe sich sogar geradezu auf die Formel bringen: sie sei um so größer, je häufiger und schneller der Dichter durch seine Worte den Übergang von der schriftlichen zu der lebendigen Sprache, das heißt zu Vorstellungen hervorrufe.