Konvention
Konventionell mußten die Bilderzeichen sowohl wie die Lautzeichen werden, wenn sie einer Verständigung zwischen den Menschen dienen wollten. Es ist vielleicht der versteckteste Irrtum der naturalistischen Kunstlehre, dass sie glaubt, die Natur ohne jegliche Konvention dennoch wirkungsvoll nachahmen zu können. Die Mitteilung, auf welcher schließlich auch die Künste beruhen, wird durch konventionelle Zeichen außerordentlich erleichtert und gefördert. Ich könnte furchtbar geistreich tun, ich könnte die bildenden Künste die Künste des Substantivs oder Objekts, die redenden Künste die Künste des Verbums oder Subjekts nennen, ich könnte die Grundlehre beider Abteilungen auf die gegenwärtige physiologische Erkenntnis des Sehorgans und des Hörorgans gründen; aber die Begründung wäre falsch, weil dabei die Konvention außer acht gelassen werden müßte. Jede Revolution, das heißt jeder Fortschritt in der Kunst strebt aus der Konvention heraus, und dennoch ist keine Kunst ohne Konvention möglich. Die Wahrheit wird also darin liegen, dass die Künste niemals ernsthaft daran denken können, die Natur unmittelbar nachzuahmen, dass die Künste aber gar wohl darauf bedacht sein müssen, ihre konventionellen Zeichen naturalistisch zu verbessern.
Wir sehen also auf dem Wege dieses Gedankenganges bestätigt, was uns schon von anderem Gesichtspunkte entgegengetreten ist: dass nämlich die Erinnerungszeichen unserer Vorstellungen für die Zwecke der künstlerischen Mitteilung der unmittelbaren Anschauung immer näher kommen müssen, dass dieselben Zeichen für die Zwecke der erkenntnismäßigen Mitteilung sich von der Natur mehr und mehr entfernen dürfen. Die Kunst wird immer naturalistischer und anschaulicher, die Sprache immer supernaturalistischer, begrifflicher. Dabei verstehe ich unter Sprache die hörbaren Gedächtniszeichen, weil doch die sichtbare Bildersprache — wir werden gleich erfahren aus welchen Gründen — nicht die gleiche Ausbildung erfahren hat. In der höchsten Kunst, in der Poesie, ist es infolge alles dessen eine fast unlösbare Aufgabe, mit Hilfe dieser höchst unanschaulichen Wortzeichen Vorstellungen zu wecken, die sich der unmittelbaren Anschauung möglichst nähern.
Gelingt es nun einem Dichter ersten Ranges, durch die Meisterschaft seiner Sprache im Gehirn des Hörers oder Lesers ganz anschaulich und lebendig die Vorstellung von Gegenständen und ihrem Leben zu erwecken, wie der Dichter sie selbst in der Natur oder in seiner Phantasie gesehen hat, so ist eigentlich erst dadurch dasjenige erreicht, was die kleine impressionistische Malerei mit so mangelhaften Mitteln anstrebt: im Gehirn des Beschauers ein Bild hervorzurufen, nicht durch plumpe Zurechtstutzung des unmittelbaren Eindrucks, durch materielle Linien und Farbenflächen, sondern durch rein psychologische Mittel. Mit dieser Bemerkung kehren wir zurück zu einer genaueren Beobachtung des Unterschieds zwischen Bildersprache und klangnachahmender Lautsprache. Ich werde nicht müde, zu wiederholen, dass die sogenannten Klangnachahmungen unserer Sprache Metaphern sind. Konventionelle Klangnachahmungen, Übersetzungen der unmittelbaren Natur in konventionelle Zeichen. Die naturalistische Nachahmung des Kuckucksrufs oder des Hundegebells ist unbrauchbar für die menschliche Sprache; erst die konventionelle Metapher Kuckuck oder Wauwau ist verwendbar. Nun könnte es gerade von meinem Standpunkte richtig scheinen, die Bildersprache in ihrem Wesen für naturalistischer, für unmittelbarer, für allgemein verständlicher zu halten als die hörbaren Laute, mit denen Naturgeräusche niemals richtig, sondern immer nur konventionell ausgedrückt werden. Wer sich die Behauptung zu eigen gemacht hat, dass das Wort Kuckuck durchaus nicht klangnachahmend ist, sondern nur eine Art von Stilisierung, der muß auf den ersten Blick die Zeichnung eines Kuckucks in der Bildersprache zum mindesten für verständlicher, also für besser halten. Ich will nicht müde werden, die Tatsache selbst immer wieder besser zu beschreiben. Den Namen des Vogels, wie ihn die Deutschen nennen, Kuckuck nämlich, würde ein Afrikaner oder Asiate nicht verstehen. Wenn aber eine Schwarzwälderuhr den Kuckuckruf nachahmt, ohne Spur von Konsonanten und Vokal, nur mit Hilfe zweier abgestimmter Blasebalgpfeifen, so ist dieser Ruf überall da verständlich, wo der Vogel Kuckuck bekannt ist. Nun sollte man meinen, dass die Abbildung des Vogels in der Bildersprache ebenso allgemein verständlich sei wie die unartikulierte Nachahmung des Rufs. Und so für die ganze sichtbare Welt.
Da aber gelange ich eben zu dem Punkte, auf den es mir ankommt. Auch die Zeichnung des Vogels ist ja doch nur konventionell, ist gewissermaßen artikuliert. Gerade in der Bilderschrift der älteren Hieroglyphen fällt es uns freilich nicht schwer, aus den Andeutungen von Schnabel, Kopf, Augen, Flügel und Füßen den Vogel sofort zu erkennen und auch die Ente vom Raubvogel zu unterscheiden. Der eingeübte Fachmann erkennt auch unter den Hieroglyphen die Insekten und die Pflanzenteile, die Hausgeräte und; die Musikinstrumente, aber das Auge des Spezialisten ist für den Ursprung dieser Dinge nicht maßgebend. Es ist bekannt, dass das Sehen von Bildern ebenso gelernt werden muß wie das Verstehen der Sprache. Kinder, die schon sprechen gelernt haben, sind gewöhnlich noch ganz unfähig, z. B. die Zeichnung eines Menschenkopfes zu erkennen. Wir selbst sind nur zu sehr eingeübt darauf, um uns darüber klar zu sein, dass diese schwarzen Linien auf weißem Papier konventionelle Zeichen für Haare, für Augen, für Nase und Mund sind. Diese Zeichen nähern sich — weil Malerei immer mehr Kunst geworden ist und sich vom Dienste der Sprache immer mehr entfernt hat — der Natur nach Kräften; die Einführung der Perspektive war die erste große Naturalisierung der Malerei, und ein Stuhl auf den ägyptischen Hieroglyphenwänden ist für uns heute kaum mehr als ein Stuhl zu erkennen, weil ihm die Perspektive fehlt; die Farbe war ein uraltes Mittel zur weitern Naturalisierung; die impressionistische Malerei ist der neueste Versuch, die konventionellen Zeichen dieser Kunst der Natur wieder um einen Schritt weiter anzunähern. Aber schließlich und am Anfange liegen auch der Bildersprache, mit welcher die Malerei begann (im Grunde ist sie ja auch heute noch Bildersprache), genau in derselben Weise wie den angeblichen Klangnachahmungen konventionelle Zeichen zugrunde. Der Vorzug der Bildersprache also vor der Lautsprache, wie er uns im ersten Augenblicke sich aufdrängte, war ein Irrtum. (Vgl. I, S. 47.)