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Vorschriftliche Zeit

Es schreibt es einer dem anderen nach, dass unsere Buchstabenschrift den ungeheuren Wert der menschlichen Sprache noch erhöht habe: durch die Schrift sei es möglich, die Mitteilung von Raum und Zeit unabhängig zu machen, entfernten Freunden briefliche Nachrichten zu geben und historische Dokumente auf die Nachwelt gelangen zu lassen. Diese Bedeutung für die Mitteilung fällt zunächst in die Augen, und sie ist wichtig genug, viel wichtiger, als wir auf den ersten Blick sehen können, die wir uns den Zustand der allgemeinen Schriftlosigkeit nur schwer vorzustellen vermögen.

Umgekehrt ist Völkern ohne Schrift diese Erfindung eine vollkommen unzugängliche Zauberei. Grimms Märchen erzählen in der Geschichte von dem armen Jungen im Grab, wie der Knabe Trauben und einen Brief zur Besorgung bekam, wie er zwei Trauben naschte und von dem Brief verraten wurde und wie er das nächste Mal, als er wieder naschen wollte, vorher den Brief unter einen Stein versteckte, damit der Brief ihn nicht sähe. Das vermeintliche Märchen scheint neu und einem Erlebnis zwischen Europäern und Indianern nacherzählt. Noch aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts wird von einem sehr intelligenten Häuptling berichtet, dass er sich lang und breit das Wesen der Schrift von einem Engländer habe erklären lassen, Experimente anstellte, wie etwa heute ein König mit der Telegraphie ohne Draht, dass er aber schließlich immer wieder von der Schrift Mitteilung derjenigen Geheimnisse erwartete, die der Schreibende gar nicht kannte. Es können die Menschen ohne Schrift sich die Schriftsprache nicht vorstellen; und wir Menschen der lesenden Zeit kaum die vorschriftliche Sprache.

Wir werden dem Geiste der vorschriftlichen Zeit am nächsten kommen, wenn wir festhalten, dass die Sprache das innere Gedächtnis für Sinneseindrücke ist, dass die Schrift allein die Möglichkeit gewährt, dieses Gedächtnis durch dauernde Zeichen zu unterstützen. So liegt es vor jeder weiteren Untersuchung auf der Hand, dass eine zuverlässige Erfahrung, dass diejenige Erfahrung, die wir "Wissenschaft" zu nennen gewohnt sind, vor der Schrift nicht möglich war. Weit mehr als heutzutage mußte jeder Mensch und jede Menschengruppe eine Erfahrung von vorn beginnen. Man erlebte weit mehr Überraschungen. Die Erfahrung war weit mehr an die zeitliche und räumliche Gegenwart geknüpft. Vergangenheit und Zukunft waren wüste Begriffe. Und was die Erfahrung nicht erwarten ließ, das mußte ein Wunder scheinen. Der Götterglaube war das natürliche Kind der vorschriftlichen Sprache. In der nachschriftlichen Sprache, die uns "wissenschaftliche" Erfahrung gewährt, mußte der Götterglaube langsam weichen. Nach Erfindung des Buchdrucks wurde er ein Anachronismus.

So weit es sich ohne Rücksicht auf die Erkenntnisfragen tun ließ, hat Wuttke (Die Entstehung der Schrift S. 53 und folgende) sehr fein auf einige Kennzeichen der schriftlosen Kulturzeit hingewiesen. "Der Abwesende galt sehr wenig oder nichts. Ich wage nicht zu sagen, wie weit dieses Gefühl der Machtlosigkeit, wie weit der Gegensatz zwischen dem gebieterischen Eindruck des Anwesenden und der Ohnmacht des Abwesenden auf die Erscheinungen des Lebens gewirkt hat, ob es beitrug, besonders auf Mehrung der Leibesstärke Bedacht zu nehmen, ob es grausamer stimmte gegen den überwundenen Feind, weil die Früchte des Sieges verlor, wer sie nicht auf der Stelle pflückte, ob es dahin führte, die religiösen Vorstellungen in der Art zu stärken, dass an ihnen ein Zauberbann gewonnen ward, der die Willkür verstrickte wo keine gegenwärtige Gewalt diese niederpreßte." Ich nehme Wuttke weiter zur Grundlage.