Emanzipation der Schrift
Diese Vorstellung, dass nämlich die Schrift in ihrer höchsten Ausbildung selbständig geworden sei und die mündliche Sprache gar nicht mehr brauche, ist aber gar nicht so phantastisch, wie es scheinen könnte. Die neuesten Sprachphilosophen neigen freilich dazu, die Schrift nur auf die ungünstige Wirkung hin zu betrachten, die sie auf den alten Organismus der Sprache geübt hat. Dass aber die Schrift besonders seit der Popularisierung der Buchdruckerkunst langsam aufgehört hat, eine bloße Nebenerscheinung der Lautsprache zu sein, dass die Schrift, wenn wir unsere Bibliotheken unter dieser Bezeichnung zusammenfassen wollen, sich in den Gelehrtenköpfen von der Lautsprache gewissermaßen schon emanzipiert hat, das ist eine psychologische Tatsache, an der auch Whitney und seine deutschen Schüler achtlos vorübergegangen sind. Phantastisch ist in der oben gewagten Phantasie doch eigentlich nur die schematische Annahme, es habe der Gebrauch der mündlichen Sprache aufgehört; dies ist beim Gebrauche unserer Buchstabenschrift ein Unding, weil die Buchstabenschrift immer erst nach der Lautsprache erlernt werden kann. Trotzdem ist die Schrift in ihrer Entwicklung zum Buchdruck eine selbständige Macht geworden, eine Konzentration aller Erinnerungen der Menschheit, also eine Sprache für sich, mit deren Leistungen sich die mnemotechnischen Leistungen der vorschriftlichen Sprache nicht messen können.
Um vorerst den psychologischen Vorgang recht zu begreifen, stelle man sich einmal die gesamte Sprachtätigkeit eines Professors der höheren Mathematik vor, der z. B. sein Leben der Theorie der Abelschen Funktionen gewidmet habe. Er gebraucht natürlich die Lautsprache genau so wie ein anderer Mensch, wenn er mit Frau und Kindern redet, mit Schneider oder Kellner. Er gebraucht auch noch die Lautsprache, wenn er im Jargon seiner Kollegen sich über Buchhändlererfolge und persönliche Eigenschaften anderer Mathematiker unterhält. Sowie er jedoch über seiner Facharbeit sitzt — sei es, dass er die Entwicklung einer Formel auf ihre Richtigkeit prüft oder dass er selbst eine neue Formel zu entwickeln sucht —, verschwindet die Gemeinsprache im Dunkel des Unbewußten, und die Schrift, die Zeichensprache seines Faches, ist allein in seiner Vorstellung. Die Lautsprache ist durch die Zeichensprache vollkommen verdrängt; und diese Zeichensprache ist nicht etwa eine phonetische Schreibung der Lautsprache (wie die Schrift es ursprünglich gewesen sein muß), sondern eine selbstherrliche, über die Lautsprache weit hinweg schreitende Bezeichnungsart. In ganz ähnlicher Weise ist die geistige Tätigkeit eines gelehrten Chemikers vom Gebrauche seiner Muttersprache losgerissen. Ein Gemisch von beiden Sprachen entsteht eigentlich nur dann, wenn der Professor der Mathematik oder der Chemie ein Lehrbuch schreibt oder seine Gedankengänge den Studenten mündlich vorträgt; es wird da mancher Satz aus der Gemeinsprache als Füllsel zu Hilfe genommen, wenn auch die Hauptsache in Schrift vorgetragen wird. Und da ereignet sich der Fall, der noch nicht näher untersucht worden ist, obwohl er alle Lehren der Sprachphilosophie auf den Kopf stellt. Es heißt nämlich immer, dass die Schrift auf der Lautsprache beruhe, nur durch sie verstanden werden könne und bestenfalls durch die Schnelligkeit und Einübung des Gelehrten ohne das Bewußtsein einer Lautsprache verstanden werde. Wenn aber der Professor der Mathematik oder Chemie seinen Vortrag hält, so sind die Schriftzeichen das Ursprüngliche, das unmittelbar Verständliche, und er hat oft Mühe, sie durch die Lautsprache auszudrücken.