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Lautsprache

Wenn also demnach die sichtbaren Zeichen für die Gegenstände und die hörbaren Zeichen für ihre Geräusche und Bewegungen den gleichen und zwar den gleich geringen naturalistischen Wert haben, so wäre die Beantwortung der Frage erschwert, warum zum Verständigungsmittel zwischen den Menschen die Lautsprache gewählt wurde und nicht die Bildersprache. Nach den vorstehenden Auseinandersetzungen möchte jeder Psychologe mit der Erklärung bei der Hand sein, es sei nur eine geringe Anzahl Menschen darin begabt, die Zeichnung der Gegenstände nachzuäffen, wohl aber seien fast alle Menschen darin begabt, die Geräusche der Natur nachzuäffen. Sie könnten hinzufügen, dass kein einziges Tier zeichnen könne, dass es aber viele Tiere gebe, welche Stimme und Klang nachahmen, dass also die Urzeitmenschen wohl die Klangnachahmung, nicht aber die Liniennachahmung zu ihrer Verfügung hatten. Sicherlich ist etwas daran. Man muß sich aber wohl hüten, die außerordentlich innige Verbindung, welche Gehörvorstellungen und Wirklichkeitserinnerungen in unserm Gehirn eingehen, für eine Ureigentümlichkeit des menschlichen Gehirns zu halten, für eine angeborene Gabe in dem Sinne, dass sie schon den Urzeitmenschen in gleichem Maße angeboren gewesen sei.

Man möchte vielmehr die Bevorzugung der Lautsprache vor der Bildersprache zunächst aus einem einfacheren, aus einem ganz mechanischen Umstande erklären. Um die konventionellen Zeichen der Gegenstände in der Bildersprache auszuführen, braucht der Mensch Zeichenmaterialien, die in den ersten Epochen der menschlichen Sprache gewiß noch seltener bereit lagen als heutzutage; um die konventionellen Zeichen der metaphorischen Klangnachahmungen herzustellen, braucht aber der Mensch nichts weiter als das Handwerkzeug, das er im Leibe trägt; er braucht bloß seine Atem- und Eßwerkzeuge als Sprachwerkzeuge zu benutzen, und die Zahnlaute, die Gaumenlaute, die Zungenlaute usw. sind fertig. So mag der unendlich lange Gang der Entwicklung sich umgekehrt verhalten zu dem, vor dem soeben als einem irrtümlichen gewarnt wurde. Nicht weil die Assoziation zwischen Gehörvorstellungen und Erinnerungen eine besonders lebhafte ist, wurde die Lautsprache für bequemer gehalten als die Bildersprache; sondern weil die Anwendung des eigenen Leibes so viel bequemer war als die Anwendung von fremden Materialien, darum gewöhnte sich der Mensch daran, die Lautsprache (neben der Gebärdensprache) zur Mitteilung zu benutzen. Und weil auf dem Ungeheuern Wege der Entwicklung solche Gehörvorstellungen zu Erinnerungszeichen unendlich oft eingeübt wurden, darum bildete sich im menschlichen Gehirn die außerordentlich enge Verbindung zwischen Erinnerungen und Gehörvorstellungen, zwischen Gedächtnis und Lautsprache.

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