Technik der Schrift
Dieser Gegensatz zwischen dem Schrifttum der Gegenwart und der allgemein schriftlosen Zeit ist nun natürlich nicht schnell zustande gekommen. Trotzdem mit dem Beginn der Schrift eo ipso die historische Zeit beginnt (was man wohl beachten sollte), kann niemand sagen, wie viele Jahrtausende vergehen mußten, bevor an die Stelle der erfahrenen Greise ein Geschlecht von lesenden und schreibenden Gelehrten trat. Die Schrift mußte erst zur alltäglichen Übung werden, bevor in psychologischem Sinne die Schriftsprache die Lautsprache verdrängen konnte; und das hing wieder von hundert Dingen ab, unter anderem von der Entwicklung der Schreibtechnik. Als der erste ägyptische König das Andenken an die Siege seines verstorbenen Vaters in Hieroglyphen malen ließ, oder als der erste semitische Fürst etwas dergleichen in Fels hauen ließ, da war das Gedächtnis der Menschheit noch nicht viel besser gestärkt als zu der Zeit, da irgend eine Priesterschaft das wirksame Gebet zu ihrer Gottheit durch den Rhythmus festlegte. Noch lange nach Erfindung der ersten Schriftzeichen mag es für unmöglich gegolten haben, dereinst die Schallwörter der Lautsprache so dauernd zu machen, wie es gegenwärtig geschieht, wenn jemand seinem Bruder nach Amerika eine Nachricht telegraphiert, wenn ein junges Mädchen der Freundin über hundert Meilen hinweg brieflich ihre Balltoilette beschreibt, wenn ein Kammerstenograph nicht nur die weltgeschichtliche Rede Bismarcks, sondern auch das Gequatsche irgendeines Parteiführers mit flüchtigem Bleistift auf bequemem und spottwohlfeilem Papier verewigt. Eine solche Alltäglichkeit des schriftlichen Gedankenausdrucks mußte auch noch nach Erfindung der ersten Schrift so unmöglich scheinen, wie vor fünfzig Jahren der Phonograph erschien.