Arzt und Patient
Wenn einer eine Krankheit hat, dann kann er was erzählen.
Zum Beispiel von einer gradezu endemischen Unsitte der Patienten: nämlich jeden fremden Arzt mit dem eignen zu schlagen.
So dankbar sind Patienten sonst im allgemeinen nicht. Jeder Arzt weiß davon zu singen und zu sagen: Heilung pflegt viele Leute derart aufzurichten, dass sie, wenn die Kur fertig ist, auf den Heilenden heruntersehen; denn das Gefühl, man könne einen Arzt eben nicht nur mit Geld ablohnen wie einen Chauffeur, ist wenig verbreitet. »Soll ich ihm vielleicht noch Blumenkörbe ins Haus schicken?« – Nein, Herr Meier; aber Sie tun gut daran, zu bedenken, dass Ihnen der Arzt neben der erlernten Anwendung seines Wissens seelische Heilwirkung hat zukommen lassen – wenn er nämlich ein guter Arzt ist. Arzt sein heißt der Stärkere sein, hat Schweninger einmal gesagt. »Es ist seine Pflicht, mich zu heilen, sein Beruf, seine Aufgabe, Herr Panter. Dafür zahle ich.« Sie können es nicht bezahlen, Herr Meier. Daß kein Arzt von der Luft oder von seinen Kassenpatienten leben kann, wissen wir; es lebt sich jedenfalls nicht sehr gut dabei. Aber wenn jener Sie in den Stunden der Bedrückung aufgerichtet hat, dann bewahren Sie ihm, über das Honorar hinaus, ein Gefühl der Dankbarkeit. »Meinen Sie wirklich, Herr Panter?« – Ja, Herr Meier.
Dankbar also sind Patienten nicht so sehr. Nur hegen sie mitunter eine solche Affenliebe zu ihrem behandelnden Arzt, dass sie jeden andern für einen Quacksalber, für einen Ignoranten und für einen Pfuscher halten – und das hört sich unweigerlich, alle Male, so an:
»Sie leiden an Magenkoliken? Also da gibts nur eines: das ist mein Doktor Mogenstrup! Bei wem sind Sie in Behandlung? Bei Ostermann? Kenn ich nicht. Gehen Sie zu Mogenstrup – warten Sie, ich melde Sie gleich an … «
Sehr gütig. Aber vielleicht hat Ostermann grade mit seiner Therapie begonnen, die natürlich nicht in drei Tagen wirken kann; vielleicht brütet er noch über einer Röntgenaufnahme und probiert … nur keine Zeit lassen! So richtig und vernünftig es ist, einen guten Arzt zu empfehlen, so unanständig scheint es mir zu sein, in die Behandlung eines Fremden, den man nicht kennt und dessen Wirken der empfehlende Laie nur schwer beurteilen kann, einzugreifen und dem Patienten das Wichtigste zu nehmen, das es neben den mechanischen und chemischen Heilmitteln überhaupt gibt: das Vertrauen und die Kraft der Suggestion.
Die krampfhafte Empfehlung basiert aber wohl im allertiefsten Grunde auf jener merkwürdigen, spezifisch deutschen Eitelkeit, die das Selbstgefühl von der Person noch auf Zahnbürsten, Weltanschauung, Arzt und die eigne Zentralheizung ausdehnt. Die Leute spiegeln sich förmlich in den von ihnen benutzten Gegenständen, in ihrer Wohnung und in Ihrer Stadt – die feinem Herren auch noch in ihrer Zeit. Was auch immer um sie, an ihnen, mit ihnen geschieht: jeder »Fortschritt«, jede Maschine, jeder gut funktionierende Wagen hebt ihren Wert. Dies alles ist mir untertänig … o du Kaffer.
Damit wir uns recht verstehen:
Die Ärzte nehmen sich mitunter reichlich wichtig; ihr Kollektiv-Ehrgefühl liegt, wie bei fast allen Gruppen, um drei Oktaven zu hoch, und wenn sie den Laien in corpore gegenübertreten, dann gnade denen Gott. Von den Kreisärzten, diesen medizinischen Polizeibeamten, schon gar nicht zu reden: was in deren Sprechstunden an stabsärztlichen Gewohnheiten, an preußischem Ton, an Seelenroheit mitunter geleistet wird, das kennt jeder Anwalt armer Leute, jeder, der mit ausgewiesenen oder auszuweisenden Fremden zu tun hat, diesen rechtlosen Europäern … Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass das, was der Kassenarzt, belastet durch die ungeheuerlichen Kosten der Kassenbureaukratie, zuwenig tut, vom Arzt der Privatpraxis zuviel getan wird: die wehleidigen Juden Deutschlands haben zweifellos an zweierlei Dingen in der ärztlichen Praxis großen Anteil: an der technischen Vervollkommnung der Spezialärzte und an einer Polypragmasie, die ihresgleichen sucht.
Aber in diesem einen Punkt hat der Patient unrecht: man mische sich nicht in die Behandlung durch einen fremden Arzt.
Es ist nicht einmal böser Wille. Wie solch ein Vorgehen den behandelnden Arzt verletzen muß; wie es dessen Praxis, oft unverdient, schädigt; wie der »Ruf« des angepriesenen Arztes oft nur auf einer Mode, auf Salongesprächen, auf Konjunktur beruht; wie rasche Heilungen manchmal auf Zufall basieren, das machen sich wenige klar.
Es scheint mir aber auch unklug, den Arzt so oft zu wechseln wie das Reichsgericht seine Deduktionen über den Landesverrat. Ein tüchtiger Arzt wird bei längerer Behandlung den Organismus seines Patienten gut kennenlernen, und den Nutzen davon hat der Patient. Läuft er von einem zum andern, so wird er, wie das nicht anders sein kann, vieles und vielerlei zu hören bekommen, Saiten werden angeschlagen, keine kann ausklingen, und zum Schluß sind alle unzufrieden.
Es ist das hier gewiß keine Frage erster Ordnung: die überwiegende Anzahl der deutschen Angestellten und Arbeiter kann es sich kaum leisten, Privatbehandlung in Anspruch zu nehmen, wenngleichen sie es manchmal mit ihren letzten Mitteln dennoch tun, nur um der vielfach unzureichenden Kassenbehandlung mit ihren entwürdigenden Begleitumständen zu entgehen, wo sich Rentendrücker und ärztliche Feldwebel die Waage halten: Folge der fatalen deutschen Sucht nach Kodifizierung des Lebens.
Wenn man aber von einem Arzt das Äußerste an Arbeit, Geistesgegenwart, Kenntnissen und Verantwortungsgefühl verlangt, dann muß man ihm, denke ich, das auch entgelten: durch das Gefühl der Dankbarkeit und dem Respekt vor einer Arbeit, deren Einzelheiten man nicht kennt.
Was gewiß nicht hindern soll, seine Mitmenschen vor den operationswütigen Schneidermeistern oder vor Ärzten zu warnen, die – wie etwa Herr Lubarsch in der berliner Charité – Politik und Heilkunde zu deren beiderseitigem Schaden vermengen.
Peter Panter
Die Weltbühne, 15.05.1928, Nr. 20, S. 758.