Der letzte Ruf
In Dünkirchen haben sie einen Mann hingerichtet, der hieß Lucien Beyen und war einundzwanzig Jahre alt; er hatte einen Raubmord begangen, und deswegen war er dran. Der Zeitungsbericht sagt:
»Die Hinrichtung Beyens ging ohne Zwischenfälle vor sich. Der Mörder wurde geweckt; es wurde ihm mitgeteilt, dass sein Gnadengesuch abschlägig beschieden sei, er beichtete, nahm die heilige Kommunion und ging gleichmütig auf das Schafott. Sein letzter Ruf war:
›Vive la Belgique –!‹«
Früher hieß das: »Mutter!«, aber das hat sich geändert, denn so sentimental sind wir nicht mehr. Auch der völlig abwegige Schrei: »Mein Gott« oder einer dieser Appelle an die diesbezüglich gesetzlich geschützte Familie ist ganz aus der Mode gekommen. Unser letzter Ruf heißt, wie blutende Figura zeigt, anders. Und das ist auch recht erklärlich.
Denn so, wie die Nerven des Auges nur Lichtempfindungen produzieren; so, wie nach der Entdeckung Gustav Meyrinks, die Pastorentöchter der vorigen Generation auf alle Reizungen entweder Kinder kriegten oder häkelten, so wie ein Kuckuck nur ›Kuckuck‹ schreien kann und wie die Funktionen der Harnblase und der Strafkammern eindeutig bestimmt sind –: so erwacht im Europäer, wenn ein heftiges Erlebnis ihn aufrührt, das Nationalgefühl.
Es ist ziemlich gleichgültig, was ihn aufrüttelt. Flieger fliegen über den Ozean; einer entdeckt ein neues Element; einer erfindet einen Apparat zur Beseitigung des Geschlechtslebens in Gefängnissen; einer läuft schnell, einer reitet noch schneller, einer boxt am schnellsten –: was auch immer geschieht, der Europäer ruft: Hurra! und läßt, auch wenn er stirbt, gerade wenn er stirbt, seine Nation leben. So sterben wir alle Tage.
Es ist der Ur-Instinkt, der tiefste, der roheste, der gewalttätigste und der gewaltigste. Es ist jener, in dessen unterirdischer Wurzel Wollust und Blutlust zusammenlaufen, es ist der Solarplexus, der schreit, das Hodengefühl antwortet, und der ganze Kerl wird zusammengeschüttelt. Die Frau ist in diesem Fall ein einziger schwingender Nerv, und haben die verzückten Nonnen in jenem Moment, der vor dem Himmel und ihrer Vorstellung ein Jahr war, geflüstert: »Der Gott kommt!« – so rufen wir, peitscht man uns aus: »Es lebe die Nation!«
Es gibt bekanntlich drei wahrhaft internationale Mächte: die katholische Kirche, die Homosexuellen und Standard Oil. Zu ihnen gesellt sich die Nation als die vierte, und nichts ist so groß wie die Solidarität der Klassenlehrer, die ihre Schulhöfe beaufsichtigen. Offiziere feindlicher Armeen stehen einander näher als Offizier und Mann desselben Landes; ordnungsliebende Staatsmänner schätzen ordnungsliebende Staatsmänner und hätten ein abgrundtiefes Mißtrauen, wenn etwa aus dem Nachbarlande eine Horde Radikaler mit Palmenzweigen in den Händen über die Grenze käme – wo brächte uns das hin! Einmal ist diese Grenze der Rhein gewesen, und dieser verpaßte Augenblick wird für Frankreich sobald nicht wiederkommen; es hat damals nicht begriffen, wo seine wahren Freunde gestanden haben, denn es hielt den Rhein für breiter als den Kanal. Es wird das eines Tages bereuen. Die Köpfe der nationalen Bandwürmer aber blinzeln sich zu und lassen die Sauggefäße aufschwellen – sie sind sich so gut … Ministerpräsidenten verstehen im Zank einander noch immer besser als die durch verkommene Sozialdemokraten verführten Arbeiter; Diplomaten verstehen einander; Polizeipräsidenten, die Kommunisten jagen, verstehen einander – Proletarier aber kennen einander gar nicht. Sie lernen sich erst gelegentlich eines Sturmangriffs oder einer Patrouille kennen und schätzen.
»Vive la Belgique!« hatte der Todeskandidat gerufen. Es war das, was er auf der Schwelle des Lebens dem Tode ins Gesicht zu sagen hatte, damit der doch wüßte, wen er da empfinge. Es war Ankündigung beim Tod, der seine Patrioten kennt, und Dank an das Leben. Denn was hatte dem morgens frühzeitig geweckten, beichtenden und kommunizierten Mörder die schönsten Emotionen im Leben verschafft –?
Die Kirche tut, was sie kann. Der Sport hat sie fast überholt. Das Kino liegt an der Spitze. Aber was sind sie alle drei gegen das Vaterland, das den einzelnen so schön vergessen läßt, was er für ein Staubkorn in der Nase des Allmächtigen ist, und das ihn emporhebt über sich selbst, so dass seine Individualität zerschmilzt wie sonst nur noch, wenn er mordet oder zeugt. Und wie bequem ist dieses Gefühl! Begeht der Landsmann Lumpereien, so schüttelt man ihn ab und kennt ihn nicht mehr; bekommt er den Nobelpreis, so ist die ganze Nation mit ihm und in ihm geehrt. Es lebe Nikaragua –!
Und je kleiner das Land, desto großer und stärker das Nationalgefühl. Man muß die erhitzten Köpfe der Elsässer sehen, für die bekanntlich ein besonderer Kosmos geschaffen werden muß, damit sie endlich Ruhe geben, und auch der zerschellte noch an ihren dicken Schädeln. Wird so eine Gruppe aber selbständig, dann entfalten sich im Winde neue Fahnen, die noch eine halbe Stunde vorher nicht dagewesen sind, und es ist zu fragen, woher nur plötzlich – nach Versailles – alle die Wappen, Marken, Embleme, Farben und Titel gekommen sind. Wer erfindet das? Wer stellt das so schnell her? Gibt es ein Warenhaus für kleine Staaten?
Ja, es gibt eines. Seine Direktricen sind die Dummheit und die Kollektiveitelkeit der Menschen, und was wäre der kleine Angestellte, wenn er nicht auf etwas stolz sein könnte, das sowieso sein eigen ist, und das auf ihm lastet! Er nimmt das Gefühl, das ihm das Nationalbewußtsein verschafft, als Abschlagszahlung aufs Gehalt an und ist sehr glücklich. Der ihn bezahlende Chef auch.
Für die Massen ist die Nation der Inbegriff alles Mystischen, Imponderabilen, schlechthin Unbegreiflichen – auf diesem Gebiet ist alles erlaubt und kann alles verboten sein, hier wachsen die großen Männer, deren Größe an der Kleinheit der Umstehenden gemessen wird. Die Nation ist der Abfalleimer aller Gefühle, die man anderswo nicht unterbringen kann.
Daher hat jener Mörder vor seinem Tode so gerufen. Da stand das Schafott, auf dem er in einer Minute, ein blutiger Sack, zurückgesunken sein wird – hier stand er; es war ein großer Moment, und wie hätte er den besser feiern können als durch jenen Ruf, der an sein Innerstes rührte: durch den brüllenden Schrei der Kollektivität! Rief er um Hilfe? Wollte er ausdrücken, dass er zum Ruhme Belgiens falle? Wagte er es, sich den Kriegshämmeln gleich zu wähnen, die gefallen waren, ohne gemordet zu haben? Nichts davon: er ging in der alleinseligmachenden Nation auf, wie der Gläubige in seiner Kirche.
Man wird in ein paar hundert Jahren nicht mehr verstehen, was die wasserspülende Rolle des Staates mit den Gefühlen zu tun gehabt hat – so, wie man sich umgekehrt heute sehr gut eine Kirche ohne weltliche Macht vorstellen kann. Einmal werden Völker unter einer gemeinsamen Rechtsordnung nebeneinander leben, wie heute die Individuen eines Staates; diese Völker werden sich entzweien und versöhnen, hier und da ihre Rechtsordnung blutig durchbrechen – aber es wird eine internationale Rechtsordnung da sein, wie heute für die Individuen eine nationale da ist, die nicht dadurch ad absurdum geführt ist, dass sie gebrochen werden kann. Und die niedern Interessen des Patriotismus, heute zur Religion erhoben, werden einmal nicht mehr bestehen. Aber bis dahin wird noch viel Blut die Hälse herunterlaufen.
Sei gegrüßt, Lucien Beyen –! Du hast, aus blinder Nacht, den letzten Ruf einer irren und geistesschwach gemachten Menschheit ausgestoßen; jenen Ruf, den sie hervorgurgelt, wenn ihr nichts mehr einfällt, wenn sie Schändliches zu tun im Begriffe ist, oder wenn an ihr schändlich gehandelt wird – den Ruf der Lämmer und der Schlächter, der Feldprediger und der Generale, der verkleideten Bankiers und der verkleideten Proletarier.
»Hurra! – Evviva! – Vive! – Three cheers! – Hip hip! – Es lebe die Nation!«
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 26.06.1928, Nr. 26, S. 977,
wieder in: Mona Lisa.