Banger Moment bei reichen Leuten
Wenn ich bei den reichen Leuten eingeladen bin, also bei so reichen, dass es einen vor lauter Reichtum schon graust, dann ist da immer ein Augenblick, wo mir heiß wird, und wo ich denke, dass mir nun gleich der Kragen platzt. Es ist alles so fein und so wunderbar herrlich: die Katzen sind noch hochmütiger als anderswo, die Hunde sind gut gezogen wie artig gebadete Kinder, das Stubenmädchen funktioniert lautlos wie der Teetisch auf Rollen, den sie wie auf der Bühne vor sich herschiebt, die gnädige Frau spricht leise und fast halblaut, diskret, fein – alles ist selbstverständlich und gewiß nicht snobistisch, es klappt wie geölt: und ich habe das lebhafteste Bedürfnis, einmal in die Vorhalle zu gehen, mich in eine Ecke zu stellen und ganz laut: »Scheibenkleister!« zu rufen, nur, damit das innere Gleichgewicht wieder hergestellt ist. So fein geht es da manchmal zu. Was ist es –?
Also es ist zunächst und zu allerunterst: der Neid. Daran darf man nicht zweifeln. Nicht Mißgunst. Es ist die stille Wut, es nicht so weit im Leben gebracht zu haben wie jene – der tiefe Glaube, ohne den man sich ja Selbstmorden müßte: genau so viel wert zu sein wie jene; die Ablehnung der Rangordnung, nach der diese den höheren Platz einnehmen, und ihre tiefste Anerkennung. Aber es ist doch noch etwas anderes.
Wenn es bei den reichen Leuten so fein zugeht, dann habe ich immer den Herzenswunsch, mir den Rock auszuziehen und zu der feinen gnädigen Frau und zu dem gnädigen Herrn zu sagen: »Kinder, nun laßt das mal alles beiseite – nun wollen wir uns einmal erzählen, wie es im menschlichen Leben wirklich zugeht –!« Aber das darf man doch nicht. (»Man sieht, Herr Hauser, dass Sie noch nicht – « Komm raus in die Vorhalle.)
Sie leben wattiert. Es ist da etwas Anämisches, etwas von einem luftleeren Raum. Sie sind von der Erdkruste durch eine Schicht Geld getrennt – sie sind, media in vita, lebensfremd, unserm Leben fremd. Es gibt doch gewiß alte, reiche Familien, die es schon gewohnt sind, viel Geld zu haben, es zu verwalten, es verdienen zu lassen, solche, die sich höchlich wunderten, als selbstverständliche Geste etwa nicht zur Bank zu schicken: aber auch bei denen, gerade bei denen fühle ich schärfstens, dass ihre Natürlichkeit so oft nicht natürlich ist, dass sie einen zu engen weiten Anzug tragen, der ihnen übrigens ausgezeichnet sitzt, dass ihre Gelockertheit anerzogen ist, dass sich unter dem ganzen Gehabe von Selbstverständlichkeit etwas regt, das gar nicht reich ist. Ein Dickdarm ist nicht reich. Ein Herzmuskel ist nicht reich. Ein Oberschenkel ist nicht reich. Die Natur fühlt sich wohl im Reichtum – aber sie spielt das Spiel nicht mit; sie ist. Reich ist sie nicht.
Und darum dehne und strecke ich mich auf der kühlen Straße, wenn ich von den ganz reichen Leuten komme, und sage zu Paul: »Paule, wo jehn wir denn jetzt hin –?« Und dann gehn wir noch wohin und trinken einen Topf irgendeiner nassen Sache und bereden es alles miteinander und sind heilfroh, dem Backofen des Reichtums entronnen zu sein. Und für wen bin nun ich: ein Reicher? Wer beneidet mich?
Und dennoch hab ich harter Mann es immerdar gefühlt: mir ist ganz kannibalisch wohl, wenn ich wieder draußen bin.
Kaspar Hauser
Die Weltbühne, 24.01.1928, Nr. 4, S. 150,
wieder in: Mona Lisa.