Poincaré spricht
Die Augen bleiben im Schatten, die Wangenkonturen schimmern in matter Weiße. Im Sessel vor uns sitzt ein Mann, dem das Alter eine winzige Spur von Rührendem gegeben hat. Aber das ist kein alter Mann: beim Gehen ist in den Schultern viel gebändigte Kraft. Raymond Poincaré wirkt wie ein zitternder Motor, der mit einem Schlag abgedrosselt werden kann; er hat sich fest in der Hand. In der Mischung von geistiger Eleganz und gläserner Härte steigt eine vage Erinnerung auf: Paul Schlenther. Und nun spricht Poincaré.
Frankreich spricht. Denn dieser Mann ist heute Frankreich.
Hier hat sich der helle Rationalismus der Franzosen personifiziert; die Technik des Sprechenden arbeitet mit Silbernadeln, die haargenau in die gewünschten Kategorien flitzen. Es ist die Präzision eines Botanikers, dem noch nie eine Pflanze ohne Art untergekommen ist … Ist das der deutsche Kinderschreck –?
Er ist es nicht.
Die französischen Wahlen sind auf seinen Namen gelaufen, und sie haben das klare Resultat ergeben, dass das Land ihn will. Warum ihn – ? Nicht nur, weil er der reinlichste und sauberste unter den französischen Politikern ist; nicht nur, weil er genau spricht, verhandelt, sich verhält, wie es Zehntausende guter Franzosen täten, säßen sie an seiner Stelle: durch das hohe helle Zimmer, das auf einen Hof des Louvre hinausgeht, ist, wenn er spricht, das bejahende Kopfnicken eines ganzen Landes zu spüren, nicht aus diesen Gründen allein ist Poincaré heute das Frankreich, mit dem andere Staaten zu rechnen haben. Das Land will ihn, weil er den Kopf und den Franc oben behalten hat, als alles um ihn drüber und drunter ging. Er hat sich das Vertrauen, das er heute genießt, nicht erbeten –, er hat es sich erkämpft und erarbeitet. Und das Land ist für ihn, weil es genau fühlt, dass dieser im tiefsten Innern sicherlich cholerische Mann dieselbe Kraft, die seine politischen Gegner bezwingt, auch gegen sich selber anzuwenden vermag.
Er ist heute Frankreich. Freilich: er ist nicht das ganze Frankreich.
Da ist ein leiser Mangel an Musikalität, an witterndem Instinkt, an wagemutigem Optimismus – dieser Politiker »kennt die Welt«, und die gewonnene Erkenntnis hat einen leichten Essiggeschmack. (Briand kennt sie auch, verachtet sie, läßt aber die andern zum mindesten glauben, dass er an sie glaubt.) Zugrunde aber liegt allem, was Poincaré tut, das äußerste Gefühl für Rechtlichkeit, für Sauberkeit, für Ordnung, daran kann kein Zweifel sein. Hier ist seine Stärke und seine leise Schwäche. Ein großer Advokat, der einen Prozeß gewonnen hat. Und einer, der, wie deutlich fühlbar, in einer großen, weit ausschwingenden Wandlung begriffen ist, die zu vollziehen für ihn weniger schwer war als sie sich einzugestehen.
Raymond Poincaré will die europäische Verständigung. Er fühlt seine Zeit, er fühlt Europa – und sei es nun, dass ihm dabei die Umstände helfen, die Mitarbeiter und die Wirtschaftslage: hier ist eine Tür angelehnt, die aufgetan werden sollte. Wieweit sich Poincaré dabei selbst im Wege steht, wird abzuwarten sein.
Zweierlei gibt es hier zu lernen:
Wer von außen auf den Gegensatz Briand – Poincaré spekuliert hat, spekuliert falsch, weil er Frankreich von innen nicht kennt. Zweite Lehre: man muß mit den Männern rechnen wie sie sind, nicht wie wir sie uns wünschen. Ich will gar nicht einmal davon sprechen, welchen Poincaré die Nationalisten bei uns an die Mauern malen. Dieses Zerrbild hat es nie gegeben; auch während der Ruhrbesetzung nicht. Ganz abgesehen davon, dass doch gerade die Deutschnationalen mit jemand sympathisieren müßten, der erwiesenermaßen alles, was er getan hat, für sein Vaterland getan hat und niemals für sich: dieser Mann hat sich auf seine Weise die Geschehnisse und Begriffe nach Kategorien geordnet (was sehr französisch ist), und er weiß in seinen Kategorien Bescheid. Sein Gedächtnis scheint unerschöpflich: sein Wissen, wie aus seinen Büchern hervorgeht, reich – seine Informationen sind gut und niemals einseitig.
Verständigung mit einem solchen Mann ist um so leichter zu erzielen, je mehr man davon absieht, Außenpolitik innenpolitisch aufzumachen, wie das in beiden Ländern genug geschieht. Poincaré ist viel zu klug, um nicht genau zu wissen, dass die leiseste Kritik von franzosenfreundlichen Deutschen sofort das hämische Geheul derer hervorruft, die die Verständigung mit Frankreich aus innerpolitischen Gründen nicht wollen. Und dennoch muß man die Wahrheit sagen. Und die ist:
Mit diesem Staatsmann kann Deutschland heute verhandeln. Dazu gehört: fleckenloseste Reinlichkeit in der Verhandlungsführung; Ausschaltung aller Elemente, die noch aus den früheren Jahren her sachlich verärgert, verbittert, verständlicherweise gereizt sind; solche Unterhändler können wir zur Zeit am wenigsten gebrauchen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so wird Deutschland durch ihn und mit ihm größere Erfolge erzielen als mit jedem anderen. Es gehört zu einer gedeihlichen Verhandlung, die Erwartungen nicht zu überspannen. Von Poincaré, der besten Willens ist, aber Franzose, Patriot, Advokat, zu erwarten, er werde morgen das Rheinland räumen, ist eine Verkennung der Lage. In seinem lateinischen Charakter sowie in dem seiner Rasse liegt der Respekt vor Verträgen, die man unterzeichnet hat: ein Vertrag gilt bis zur Unterzeichnung eines neuen. Wollen beide Teile zueinander kommen, so müssen die Franzosen deutsch denken und die Deutschen französisch denken lernen. Das ist sehr schwierig, aber es ist zu machen. Hier und nur hier liegt die Möglichkeit einer gesunden »Realpolitik«.
Der Mann am Schreibtisch erhebt sich. Die äußerste Delikatesse, mit der er die deutsche Innenpolitik betrachtet; die objektive Neutralität, zu der sich dieser stets entflammbare Wille zwingt; das Stück Geschichte, das von ihm ausstrahlt: sie sind, mit dem unbedingten Vertrauen, das dieser Mann heute in Frankreich mit Recht genießt, der Anfang einer neuen politischen Epoche zur gedeihlichen Zusammenarbeit der beiden benachbarten Völker.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 26.05.1928.