Warten vor dem Nichts
Wer durch die berliner Straßen im Auto fährt, der erlebt so manches liebe Mal dieses: eine Lampe leuchtet auf, und stocksteif, angenagelt, geduldig warten drei, vier Wagen an einer Straßenkreuzung. Worauf –?
Auf die Auswirkung einer Idee.
Sie warten auf eine Möglichkeit, auf ein in die allgemeine Berechnung einbezogenes Ereignis, sie warten einer Theorie zuliebe – es könnten von der andern Seite Wagen kommen … Es kommen aber keine. So warten sie auf ein Nichts.
Ferne sei es von mir, die Regeler des Verkehrs, die im Lande leicht priesterliche Verehrung genießen, dieserhalb anpflaumen zu wollen. Ein Teil des Nationalstolzes ist ja auf die Anbetung des ›Verkehrs‹ übergegangen, und zwar steht ihre Große im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seiner, und niemand ist so stolz auf seinen Verkehr als Ochsenhausen, wenn ein Auto durchfährt. »Doch auch zum Herdenrhythmus hatten diese Wesen es noch nicht gebracht«, steht in den höchst verdienstvollen ›Kegelschnitten Gottes‹ von Sir Galahad. »Das überstieß sich unaufhörlich und zuckte zurück vor Straßenbahnen, Autobussen, Elektromobilen. Dieses anders bewegte Tote trieb seine Rhythmen nicht als Keile in den Puls der Menge hinein, streckte – staute – zerriß ihn. Alle atmeten ja wie verstörte Frösche.« Nein, was den Wartenden so seltsam berührt, das ist die Unterwerfung denkender Geschöpfe unter eine Idee, deren praktische Anwendung sie so oft enttäuscht, nämlich jedesmal dann, wenn kein Wagen aus der Nebenstraße kommt. Lasset uns, während wir warten, ein wenig spintisieren.
Die Literatur hat öfter Menschen vom Mond herunterfallen, aus Persien, aus Japan ankommen, Europäer in Zwerg- oder Riesenstaaten reisen lassen, um Unbefangene zu schaffen, Leute, die nicht an den Ort gebunden waren, den sie zu beobachten sich vornahmen – nur solche schienen den Autoren geeignet, die volle Wahrheit über das menschliche Leben auszusagen. Wer immer da ist, wo er ist, der sieht zum Schluß nicht mehr. Er sieht die Bäume, die Zweige und die Äste – den Wald sieht am besten der, der noch nie einen gesehen hat.
Und wer sich losreißt vom Gebundenen, der wird – auf der ganzen Erde – immer wieder dasselbe Phänomen finden: wie die Leute auf das Nichts warten, weil sie vor dem Etwas Angst haben. Es gibt Tausende und Tausende von Verbesserungen, die man morgen früh um acht Uhr einführen könnte, wenn nicht diese Angst vor dem Nichts wäre. Die Angst heißt nicht Angst, sie hat viele Namen: aus technischen Gründen ist dies nicht möglich, aus Kompetenzgründen jenes nicht; geschriebene Worte stehen dem gebändigten Leben im Weg, das ans Licht will; da müssen wir erst … so schnell wird sich das nicht … die Ämter … So warten sie auf das Nichts. Da stehen hundert um einen Brand herum, den sie nicht löschen, weil tiefe, niemals ganz zu ergründende Hemmungen, Bräuche, Komplexe, Angstzustände, blinde Willensstörungen sie daran hindern. Immer aber sind diese Vierradbremsen der Zivilisation rational begründet – nie wird eine als rätselhaft zugegeben.
Man sieht bekanntlich an winzigen Dummheiten mehr als an großen politischen Programmen. Da: unsere Straßen sollen abends erleuchtet sein, daran ist kein Zweifel. Mehr oder minder sind sie es. An den Häusern sollen Nummern stehen, damit man sich herausfindet, die Polizei verlangt das. Die Nummern stehen an den Häusern. Aber ab sieben Uhr abends sind die Nummern nicht mehr da, sind in Dunkel gehüllt, unbrauchbar. Kann man sie erleuchten? Es ist eine technische Winzigkeit, die dazu nötig wäre, gar nicht darüber zu reden. Werden die Nummern beleuchtet? Man muß gelesen haben, was sich anläßlich der Besprechung dieser kleinen Frage erhob: Staub stieg auf, um tausend Lungen in Hustenanfälle zu versetzen, die Polizei verbot die Beleuchtung, dementierte das Verbot, Erwägungen setzten ein, ja, es bildete sich sogleich, wie Gras zwischen Pflastersteinen, ein Verein zur Bestrebung der abendlichen Beleuchtung der Hausnummern e. V. Kurz, alle Beteiligten waren schrecklich erleuchtet – mit Ausnahme der Nummern. Die liegen heute noch im Dunkel, weil … ja.
Da liegen die Höfe der Schulen. Werden sie außerhalb der Schulstunden ausgenutzt, ausgebaut, belaufen von spielenden, schreienden, ballschlagenden Kindern? Manche vielleicht, viele kaum, alle sicher nicht. Die Plätze in der großen staubigen Stadt sind da, es fahren keine Wagen auf ihnen, die Kinder wären dort sicher – nutzt man sie voll aus? Sturm der Entgegnungen: wir können nicht … Sie müssen nämlich wissen, dass … die Schulbehörden haben … Horch, wie sie auf das Nichts warten.
So tun sie im großen und im kleinen. So führen sie Kriege, und so unterlassen sie, abends ihre Hausnummern zu beleuchten; so quälen sie Menschen, weil sie in Südtirol wohnen, obgleich sie in Südtirol wohnen, während sie in Südtirol wohnen – zu welchem Ende? (»Ja, wenn Sie so fragen … !« Ja, so frage ich.) Das Treiben erinnert an die emsige, stille, kluge, zähe Politik der Jesuiten: welchem Endzweck dient die eigentlich, wie sieht der Idealzustand aus, den jene erhoffen, sich vorträumen, von dem sie sich lenken lassen? Nichts. Nichts.
Vielleicht will die Vernunft zu viel, vielleicht kann das Leben zu wenig. Sieh, jetzt ist gelb in der Wartelampe erschienen, nun grün. Lasset uns Gas geben, lieben Freunde, und weiterfahren.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 28.03.1928.