»Erst muß was passieren!«
Der größte Teil der europäischen Minister verbringt seine von Amts wegen bezahlte Zeit auf Einweihungsfeiern.
Dortselbst hören wir dann, wie es mit dem modernen Staat und mit dem Ressort des Ministers selbst bestellt sei: wie herrlich, wie gut, wie wichtig und wie human. Die Minister vermehren sich wie die Sandflöhe – wo gestern noch keiner gewesen ist, da steht heute ein ganzes Ministerium: mit Ministerialräten, Regierungsräten, Obersekretären und Portiers, und wenn einer glaubt, dass dort keine produktive Arbeit geleistet werde, so darf er die Reinmachefrauen nicht vergessen. Was aber die Praxis dieses Rechtsstaats angeht, so sieht die zum Beispiel so aus:
In Berlin lebt ein alter Mann, der – wahrscheinlich durch Veranlagung – ebenso bösartig wie jähzornig ist. »Solange ich denken kann«, schreibt eine der vier Töchter, »sind wir Kinder und meine Mutter von meinem Vater in äußerst roher und brutaler Weise mißhandelt worden, so dass unsre frühem Nachbarn und Mitbewohner des öftern bei der Polizei angerufen haben, die sich jedoch stets als nicht zuständig bezeichnete. Wir hatten vor dem Vater zu große Angst, um irgendwelche Schritte zu unternehmen; doch zogen wir Kinder, als wir größer waren, die Konsequenz aus dieser Behandlung und verließen alle sehr früh das Elternhaus.« Die Mutter bleibt bei ihrem Mann.
Der wird schlimmer von Tag zu Tag. »Ein andrer Mann an meiner Stelle hätte schon lange ein Messer genommen und dich erstochen oder in Stücke geschnitten!« Das sagt er nicht nur: er schlägt die Frau braun und blau. Eine Tochter kommt zufällig nach Berlin, sieht, wie die Dinge stehen, und befürchtet mit vollem Recht einen bevorstehenden Totschlag oder doch eine nicht wiedergutzumachende Körperverletzung. Sehr höfliche, sehr ausführliche, sehr gut begründete Eingabe an das »Gesundheitsamt der Stadt Berlin«.
Sehr höfliche, sehr ausführliche Antwort, des Sinnes: »Da können wir leider nicht viel machen!« Aber das Gesundheitsamt läßt den Mann immerhin untersuchen: er ist tatsächlich gemeingefährlich geistesschwach und kann nach § 6 BGB entmündigt werden. »Sicherheitsgewährung für Ihre Frau Mutter ist leider sehr schwierig.« Man hat den Eindruck, dass auf diesem Gesundheitsamt immerhin so gut gearbeitet wird, wie das die verzwickte und verwickelte Scholastik der Paragraphen zuläßt. Eingabe der verzweifelten Frau an die Polizei. Was dann geschieht, zeigt ihr Brief:
»Also in meiner Sache bin ich noch gar nicht weitergekommen. Daß ich den Antrag auf der Polizei gestellt hatte, weißt Du ja, darauf kriegte ich nach 10 Tagen eine Vorladung vom Amtsgericht Berlin-Mitte. Da steht drauf: Sie werden gebeten, sich zu einer Rücksprache im Gerichtsgebäude einzufinden. Da bin ich dann hingefahren, aber grade solch einen Richter angetroffen, wie Vater ist. Der sagte nämlich: Wenn der Mann die Bibel liest, ist er doch nicht schlecht, als wenn er trinken würde, und dass die Kinder alle aus dem Hause sind, das wird wohl an den Kindern liegen. Daß der Mann sadistisch veranlagt ist, das sind heute viele Männer, und auf das ärztliche Attest meinte er, wenn man da paar blaue Flecken hat, und dass sie angeblich von Mißhandlungen des Mannes herrühren sollen, wer garantiert ihm dafür, also es kann sein, kann auch nicht sein. Der Herr tat so, als ob sich das jede Frau gefallen lassen muß. Darauf habe ich ihm so verschiedenes gesagt, dass ich unter keinen Umständen mit meinem Mann weiter zusammenleben kann, da sagte er, da soll ich ihm in 4 Wochen also eine Geburtsurkunde von Vater, eine vollständige Heiratsurkunde, eine polizeiliche Wohnbescheinigung, und was das Schlimmste ist, ein ärztliches Zeugnis über die angebliche Geisteskrankheit besorgen. Ich frug natürlich gleich, wie der Herr sich das denkt, wie ich Vater untersuchen lassen soll, darauf sagte er: Das ist Ihre Sache, wie Sie es machen, vielleicht geht er mal zum Arzt wegen Erkältung, da soll ich mich mit dem Arzt in Verbindung setzen, damit er ihn auf seinen Geisteszustand untersucht. Ich sagte darauf, damit gibt sich doch kein Arzt ab, da meinte er eben, das ist meine Sache, wie ich es mache. Wenn ich bis zum … die 4 Urkunden nicht einschicken kann, fällt alles ins Wasser. Vaters Geburtsurkunde und unsere Eheurkunde habe ich alles gehabt, nun ist aber alles fort, gewiß hat Vater alles fortgenommen. Als ich mir alles zurechtlegen wollte, war alles fort. Auf der Polizei war ich noch, nachdem ich aufs Gericht gewesen war. Da fragte mich der Beamte, ob Vater gemeingefährlich wäre, sonst können sie nichts unternehmen, es muß erst was passieren. Da sagte ich, dann ist es doch zu spät, wenn erst was passiert ist.«
Hier liegt ein schwerer Fall von Lebensgefahr für eine Frau vor, die ihre Steuern an den Staat dafür abführen muß, dass der sich um sie kümmert, wenn es das öffentliche Interesse erfordert. Im zuständigen Ressort nun sitzt ein Richter. Was ein deutscher Richter ist, wissen wir – wir wissen auch, dass sich dieses Material infolge der Schlafmützigkeit der Republik heute schlimmer gebärdet, als das jemals unter dem Kaiser möglich gewesen wäre, das Nähere siehe unter »Sozialistische Realpolitik«. Dieser Richter, der hier um Hilfe angegangen wird, hat für die Frau nur einen sanft verkleideten Hohn. Niemand straft ihn dafür. Die Frau läuft in ihrer Verzweiflung umher und wartet, bis ihr Mann sie tot- oder ihr ein Auge ausschlägt. Dann –
Dann werden sich die Polizei, ein Stück Untersuchungsrichter, ein Staatsanwalt und drei Richter emsig und vor Entrüstung bebend mit dem Fall beschäftigen. Man kann – heute noch – dem Mann das Zuchthaus ersparen; der Frau das Leben retten oder die Gesundheit – heute noch gehts. Niemand hilft der Frau; wenn es zu spät ist, kann ihr nicht mehr geholfen werden.
Man beurteile Gruppen nach dem letzten Mann, nicht nach dem ersten. Wenn Herr Simons, wenn der Preußische Richterverein solche ungeeigneten Elemente wie diesen hier in ihren Reihen belassen, so verdienen sie das härteste Urteil über ihren Stand. Sie haben kein Recht, dagegen zu protestieren; man braucht sie nicht einmal anzuhören. Diese Justiz ist an Haupt und Gliedern krank. Verkürzen wir ihre Leiden und die unsern.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 25.12.1928, Nr. 52, S. 944.