Der Mörder und der Staat
Antwort auf eine Umfrage
Die Vollstreckung der Todesstrafe wäre mit den Grundsätzen eines Kulturstaates nicht vereinbar, weil die Heiligkeit des Lebens höher steht als die schwankenden Forderungen der Sitte, deren Kodifikation das Gesetz darstellt. Der moderne Nationalstaat ist aber kein Kulturstaat: er nimmt nicht nur Mördern das Leben, sondern auch Unschuldigen, die zwangsweise in Uniform gesteckt werden, um für die Interessen von Kaufleuten und Beamten getötet zu werden, ohne selbst etwas dabei gewinnen zu können. Die Verhängung der Todesstrafe durch den Staat, der seine Versprechen nicht einlöst, der ein unredlicher und unsorgfältiger Kaufmann ist, stellt also nicht einmal das schwerste seiner Vergehen dar.
Trotzdem ist diese Todesstrafe abzulehnen. Es gibt keine Statistik, die beweist, dass die Kriminalität in einem Staat mit Todesstrafe höher ist als die in einem Staat ohne die Todesstrafe. Es erscheint mehr als fraglich, ob bei der Abwägung der Vorteile und des Strafrisikos, die in einem Gehirn vor Begehung der Tat stattfindet, die Existenz der Todesstrafe jemals eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat.
Von einer erzieherischen Wirkung der Todesstrafe kann keine Rede sein. Die Befriedigung der primitiven Rachsucht der Geschädigten ist kein ethisches Postulat, sondern das Überbleibsel und die Vortäuschung individualistischer Epochen sowie die Abtretung der Blutrache an den Staat, dem hierzu jede sittliche Aktivlegitimation fehlt. – Die Vollstreckung der Todesstrafe in revolutionären Epochen halte ich für eine Notwendigkeit.
Ignaz Wrobel
Zuerst in: Der Mörder und der Staat.
Die Todestrafe im Urteil hervorragender Zeitgenossen,
Hädecke Verlag, Stuttgart 1928, S. 89.