Die großen Familien
Im Reichsgerichtsprozeß gegen unsre Freunde Küster und Jacob stand der Reichsanwalt, Herr Jörns, auf und sprach zu Berthold Jacob:
»Haben Sie einen Bruder in Paris?« – »Ja.« – »Was tut Ihr Bruder dort?« – »Mein Bruder treibt in Paris literarische und historische Studien. Nächstens wird ein Buch von ihm erscheinen.« – Der Reichsanwalt:
»Steht Ihr Bruder nicht in Beziehungen zum französischen Generalstab?« – »Nein.« – »Zum zweiten Büro des französischen Generalstabs?«
Und dann später noch einmal: »Steht Ihr Bruder nicht in Beziehungen zum französischen Kriegsministerium oder zum französischen Auswärtigen Amt?«
Berthold Jacob, dessen tapferes Benehmen vor diesen Richtern recht viele Nachahmungen verdient, gab dem ehemaligen Kriegsgerichtsrat Jörns, der den von deutschen Offizieren an Liebknecht und Luxemburg begangenen Mord ›bearbeitet‹ hat – diesem Mann gab Jacob die nötige Antwort. Das kleine Intermezzo in einer sonst anständig und untadlig geführten Verhandlung verdient hervorgehoben zu werden, weil es für den Geist des Reichsgerichts typisch ist.
Der ehemalige Kriegsgerichtsrat weiß von dem Bruder nichts, außer ein wenig Klatsch. Zunächst gibt es nichts zu wissen: der Mann lebt hier in Paris, bearbeitet den alten historischen Fall Naundorff; er lebt im übrigen als Privatmann, dessen Gesinnung überhaupt nicht zur Diskussion steht, Herr Jörns interessiert sich für ihn. Ihm genügt die Tatsache, dass ein Deutscher beim welschen Erbfeind lebt, um ihn zu verdächtigen. Seine Fragen, die nicht zur Sache gehörten, waren Verdächtigungen und sind selbstverständlich als solche aufzufassen. Wüßte der Reichsanwalt Näheres und Belastendes über die Tätigkeit dieses Bruders, so müßte er ja von Amts wegen dagegen einschreiten, und man kann sicher sein, dass er es getan hätte. Er weiß aber nichts. Diese Ignoranz genügt, um einen Deutschen, der weder als Angeklagter noch als Zeuge mit der Sache zu tun hat, zu beschimpfen. Der Angeklagte allein ist dem Kriegsgerichtsrat zu wenig Beute: alles, was zu seiner Familie gehört, ist verdächtig.
Daß eine Beleidigung durch den Reichsanwalt vorliegt, steht außer Zweifel: in seinen Kreisen werden solche ›Beziehungen‹ zum französischen Generalstab als Spionage, als Landesverrat, also als Verbrechen angesehen. Der Vorsitzende hat Berthold Jacob damit zu beruhigen versucht, dass er bemerkte: »Der Herr Reichsanwalt hat nur gefragt … « Was wäre zum Beispiel, wenn ich fragte, ob die Tochter des Herrn Reichsgerichtsrat X ein Luderleben führt, ob sich der Reichsanwalt Y jeden Abend besauft? Und was wäre, wenn ich vor Gericht im Verhör stammelte: »Aber ich bitte Sie … , ich habe nur gefragt«?
Daß der Reichsanwalt Jörns einen unbeteiligten Mann, den er vor Gericht beleidigt, durch solche haltlosen Anwürfe in dessen Erwerbsleben schwer schädigen kann, daran denkt er offenbar nicht. Der Präsident des Reichsgerichts, Herr Simons, den die Schmöcke gern den »höchsten deutschen Richter« nennen, scheint seine Leute nicht ordentlich an der Schnur zu haben. Sieht er sich das ruhig mit an? Kann er ihnen nicht wenigstens die einfachsten Beamtenpflichten klarmachen? Will er deshalb nicht, weil er es grade so machen würde? Wie dem auch sei: der Bruder hat in diesem Prozeß nichts zu suchen. Wohl aber die große Familie der radikalen Pazifisten.
Von diesem Punkt aus ist manches im Prozeß zu erklären gewesen: unter anderm das Urteil. Zu dem hat wesentlich die forsche Haltung Küsters in jener leipziger Versammlung beigetragen, wo Tausende gegen die Abwürgung der Wahrheit durch das Reichsgericht protestiert haben, und wo die Stühle der eingeladenen Reichsgerichtsräte allegorisch leer blieben. Gerechtigkeit: Fehlanzeige. Nun hatte aber Küster tausend Mal recht: wird Landesverrat von Pazifisten begangen, ohne dass Geld im Spiel ist, so ist es in unsern Augen kein Verbrechen.
Dieser Landesverrat kann eine Notwendigkeit sein, um etwas Großes und Wichtiges abzuwehren: den Landfriedensbruch in Europa. Der europäische Friede steht über den niedern Interessen der Vaterländer.
Daß die beiden zu Unrecht Verurteilten eine solche Art Landesverrat im vorliegenden Fall nicht begangen haben, ist eine andre Sache. Sie haben schon deshalb gar nichts verraten können, weil es einen publizistischen Landesverrat kaum noch gibt – die uniformierte Konkurrenz ist viel, viel schneller. Sie haben nichts verraten können, weil drüben alles – aber auch alles – bekannt war, und es ist ein Skandal, dass kein Vorsitzender die Vertreter des Reichswehrministeriums in die Zange nimmt und sie fragt:
»Ist es wahr, dass im Juli 1925 die feindlichen Spionageorganisationen über die schwarze Reichswehr ausreichend Bescheid gewußt haben – ja oder nein? – Hat zwischen Münster in Westfalen und dem ›Stahlhof‹ in Düsseldorf eine Verbindung bestanden – ja oder nein? – Hat in den ›Bulletins Secrets‹ alles Wissenswerte über die geheime illegale Bewaffnung aus der Zeit Geßlers gestanden – ja oder nein? – Kam ein ›Vogel‹ geflogen und setzte sich nieder auf des Erbfeindes Fuß – ja oder nein? – Hat der französische Nachrichtendienst seit dem Sommer 1923 nicht alles gewußt, was von der Reichsmarine über Krupp zum patriotischen Ruhrwiderstand führte – ja oder nein? – Wollen Sie sich als Sachverständiger dazu äußern, wer zu den Herren Braun, Lux (dem Polyglotten), Schneider, Terre gegangen ist? Wollen Sie sich als Sachverständiger dazu äußern, wer den Franzosen erzählt hat, dass die drei in Bayern aufgestellten schwarzen Divisionen von Kahr, von Lossow und Seißer nordwärts marschieren werden und nicht etwa nach Westen?« Aber das hat keiner gefragt.
Der großen Familie der Pazifisten steht die große internationale Familie der Militärs gegenüber, die voneinander und übereinander viel mehr wissen, als je eine pazifistische Zeitschrift veröffentlichen kann. Die wirklichen, echten, und, wenn man so will, gefährlichen Landesverräter, sitzen nicht auf den Redaktionen, sie sitzen anderswo … Und sie sind nicht einmal so sehr teuer.
Uns radikalen Pazifisten aber bleibt, entgegen allen Schäden des Reichsgerichts, das Naturrecht, imperialistische Mächte dann gegeneinander auszuspielen, wenn der Friede Europas, wenn unser Gewissen das verlangt, und ich spreche hier mit dem vollen Bewußtsein dessen, was ich sage, aus, dass es kein Geheimnis der deutschen Wehrmacht gibt, das ich nicht, wenn es zur Erhaltung des Friedens notwendig erscheint, einer fremden Macht auslieferte.
Ob die deutsche Justiz vor den Uniformen stramm steht oder nicht, ist uns gleichgültig. Daß die Richter, von denen ein Teil auch politisch nach Revanche schreit, an den tapfern Pazifisten Küster und Jacob ihr Mütchen gekühlt haben, steht außer Zweifel. Der eine hat durch die ausgezeichneten Informationen seiner ›Zeit-Notizen‹ den General Seeckt entfernt, und der andre macht in seiner Wochenschrift ›Das Andere Deutschland‹ in Hagen und in ganz Westfalen die allerbeste pazifistische Propaganda. Beide sind ebenso radikal wie aktiv, und das verzeiht ihnen die reaktionäre deutsche Justiz nicht. Dem Reichsgericht aber sei dieses unser klares Bekenntnis ins Gesicht gefeuert:
Wir halten den Krieg der Nationalstaaten für ein Verbrechen, und wir bekämpfen ihn, wo wir können, wann wir können, mit welchen Mitteln wir können. Wir sind Landesverräter. Aber wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 27.03.1928, Nr. 13, S. 471.