Der Ruf auf der Straße
Jetzt sitze ich bald vier Jahre in Frankreich. In den ersten acht Tagen ging ich im Taumel umher, die eisernen Ketten der Inflation waren gerade gefallen, und mir war mein Schwergewicht abhanden gekommen. Nach zwei Monaten verstand ich alles – hätte mich jemand gebeten, ihm eine Monographie über Frankreich zu schreiben, ich hätte angenommen; aber zum Glück hat mich damals keiner gebeten. Nach einem halbem Jahr begann das Bild sich langsam zu verdunkeln, die Fäden liefen wirr, da waren Widersprüche, die ich nicht zu lösen vermochte … Nach drei Jahren verstand ich gar nichts mehr. Wie ist der Franzose?
Einmal fand ich die Formel: ›Griechen mit Zopf‹, was einen der besten deutschen Kenner Frankreichs zu heftigem Kopfnicken veranlaßte – aber mit einer Formel ist die Sache ja nicht zu machen. Wie ist der Franzose? Ein Ding mit starker Individualität? Ja, auch – aber daneben gibt es kollektive Züge, Elemente einer so kompakten Einheit, dass auf der Leiter: Briand, Kaufmann Dupont und Hafenarbeiter Lepetit nur Qualitätsunterschiede derselben Marke vorzuwalten scheinen. Ist der Franzose unmodern? von gestern? zurückgeblieben? Ja, er ist seßhaft und konservativ – aber dicht daneben läuft ein ständiger Umbildungsprozeß, der verhütet, dass das Volk hinter seiner Zeit zurückbleibt; diese leisen Wandlungen gehen fast unmerklich vor sich, der vorschnelle Beobachter ist leicht geneigt, zu sagen, dass ›diese Leute eben nicht von heute‹ seien. Hat die Französin nicht einen gänzlich verkehrten Ruf, den sie gar nicht verdient? Ja; aber neben ihrer unleugbaren Bürgerlichkeit, ihrer Übervernunft, ihrer klaren Überlegungskraft, durch die sie ohne Stimmrecht herrscht, liegt die ›caprice‹, jenes unwägbare X, das nicht in Worten zu fangen ist … Das einzige, was ich vom Franzosen bestimmt weiß, ist, dass er seine Sous aufbewahrt, allwelche Neigung sich in kaum vorstellbarer Kleinlichkeit, Mangel an großzügigem Denken und Pfennigrechnerei ausdrückt. Geiz ist ein französisches Nationallaster. Geiz ist eine französische Nationaltugend und eine der Quellen der Stärke dieses Landes. Wie ist der Franzose? Jeden Morgen, wenn der Tag hinter den Vorhängen aufblaut, ertönt von der Straße her ein langhingezogener Ruf nach dem andern. Sie sind nicht immer so melodisch wie jener indianische Liebesschrei aus ›Rose-Marie‹, aber doch einträglich wie jener: es sind Kleiderhändler, Glaser und allerhand kleine Handwerker, die da ihre Anwesenheit ausschreien, ausrufen, ausbrüllen, ausklingeln – wie in einer ganz kleinen Stadt. Was folgerichtig ist: denn Paris besteht aus einer Anhäufung von kleinen Städten. Der Tabakmann an der Ecke hat geheiratet. »Sa femme? Connais pas. Elle n'est pas du quartier.«
Durch die Viertel ziehen die kleinen Kaufleute und rufen. Es ist sehr schwer zu verstehen, was sie da eigentlich rufen – ich habe es lange Zeit hindurch nicht verstanden. Vielleicht gibt es ein Werk über die pariser Kleinhändler wie über die hamburger – ich habe niemals gefragt und also nicht verstanden. Man geht ja – was übereifrige Staatsanwälte niemals verstehen wollen – mitunter jahrelang an Türen vorbei, die man nicht sieht; an Namensschildern, die man nicht liest – so ließ ich diese Rufe an meinem Ohr vorüberpfeifen und vernahm sie nur, aber verstand sie nicht. Wie ich das ganze Land noch nicht verstand: ich sah so vieles und nahm in mich auf und war dankbar und gleichgültig und gereizt und erfreut und bezaubert und entsetzt … aber noch verstand ich nicht.
Gestern morgen, als ich zum Heiligen Rasier betete, und der weiche Seifenschaum mich umhüllte, gestern morgen ertönte aufs neue der langhingezogene Ruf. Und plötzlich, wie vom Schlag eines Mirakels getroffen, verstand ich.
»Brocanteur!« rief der Mann.
Ein Trödler also, ein Aufkäufer von altem Hauskram, jenem Zeug, das auf den Böden und in den Kellern liegt, das eigentlich zu nichts mehr nutze ist … ich kannte das Wort, natürlich. Aber der hallende Laut, der bisher nur Laut gewesen war, der nur ins Ohr gedrungen, aber nie im Großhirn verarbeitet worden war – dieser Laut hatte plötzlich einen Sinn bekommen. »Brocanteur!« hatte es gerufen.
Und von mir lösten sich in diesem Augenblick Schleier und Bande, ich hörte und sah, und das Land war auf einmal neu. Ich stand wie auf einem Hügel und sah auf das herab, was ich mir erobert hatte. Es war so mühsam gewesen …
Unterhaltungen mit den feinen Leuten im Salon und mit den weniger feinen, aber aufschlußreicheren auf dem Markt und in den Kneipen; jene langen, geschwungenen Unterhaltungen, die sich in genau berechnetem Bogen dem Ziel nähern – unmöglich, dem andern mit amerikanischer Höflichkeit, die da Sachlichkeit heißt, ins Gesicht zu sagen, was man wolle … Erst »un brin de causette« – die formale Versicherung, dass man nichts voneinander wünsche, gar nichts – dann: »Apropos … « und dann gehts los. Die empfindlichen Stellen herausfühlen, die toten Stellen im französischen Kopf, jene, die nicht reagieren, wenn man klopft; die Abteile, in denen niemand zu Hause ist … und die andern, aus denen die Defensive herausspringt, die meist darin besteht, dass der Wohnungsbesitzer, mißtrauisch und empfindlich, Fenster und Türen zuschlägt. Es war so mühsam gewesen.
Und ich hatte die Wirkung der Arbeit nicht einmal gleich gemerkt. So, wie der Ruf von der Straße hundert- und hundertmal mein Ohr getroffen, bis er sich vom Laut zur Mitteilung hindurchgerungen hatte, so habe ich tausend und tausend Äußerungen des französischen Charakters an mir vorbeipassieren lassen, jede einzelne gleichgültig, jede nicht sehr welterschütternd, alle ohne System – bis zu dem Tage, wo sie sich aufbauten und wo nun auf einmal ein ganzes Land vor mir lag. Es war so mühsam gewesen. Hätte ich von Anfang an Karten gehabt …
Denn so, wie einer auf dem Balkan einmal gesagt hat: »Rumäne – das ist keine Nationalität; das ist ein Beruf«, so darf man sagen: »Der Franzose ist für den Ausländer keine Nationalität – er ist ein zu bestehendes Examen.« Wer zum Beispiel nach England mit der genauen Kenntnis seiner Geschichte und seiner Kultur kommt, hat manches vor dem ungebildeten Fremden vorauf – aber sicherlich nicht eben viel. In Frankreich ist damit schon die halbe Schlacht gewonnen, das halbe Examen ist schon bestanden. Denn was für uns Deutsche so sehr schwer zu begreifen ist: hier ist Überlieferung keine lästige Fessel, hier lebt sie; Tradition und Kultur leben, es leben Geschichte, Erinnerung und das Wirken vergangener Geschlechter. Hier fängt keiner für sich immer wieder ganz von vorn an …
Und Ruf auf Ruf enthüllten mir ihren Sinn: »'chand d'habit!« und »Le vitrier!« und alle die andern. Die Bäume begannen zu sprechen, der Fluß rauscht meine zweite Sprache, die Steine hallen unter meinen Schritten und sagen etwas, das ich deuten kann.
Bin ich am Ende? Eine Unterhaltung, eine einzige mit wohlhabenden Bürgern zeigt: Nein. Der, der sechsundfünfzig Monate in den Gräben stak; der, der kein Blatt halten kann, ohne zu zittern, so haben sie ihn zusammengeschossen – der ist mir sehr nahe, den verstehe ich beinah ganz. Den feinen Mann weniger: er ist voller Reserven, in den Augen schimmert die Abwehr, in der Stimme zittert: ich will nicht, ich will nicht … Es ist nicht zu Ende. Ich stehe nach vier Jahren – auf einer kleinen Anhöhe, hinter mir liegen einige bezwungene Täler, und ich will weitergehen, auf eine weite Wanderung.
Peter Panter
Vossische Zeitung, 08.07.1928.