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Außen- und Innenpolitik

Die absolute Souveränität des Staates, einer der Hauptgründe für die Weltanarchie, hat zu folgender bizarrer Erscheinung geführt:

Seit Jahren treffen sich die Vertreter der Staaten in der Schweiz und tauschen vertragsähnliche Papiere aus, nicht ohne ihre persönliche Bekanntschaft zu befestigen, was vielleicht das einzig reale Gute dieser Zusammenkünfte ist. Aber alles, was dort gesprochen und getan wird, bezieht sich zunächst nur auf außenpolitische Beziehungen, und diese Unterhaltungen werden um so leichter akzeptiert, als sie für die meisten Staatsangehörigen unverbindlich bleiben.

Außenpolitik ist eine Sache, die für die kleinen Zellen im Staat, den Kreis, die Gemeinde, die örtlichen Schulverwaltungen schön weit weg ist. Und da es bekanntlich viel leichter ist, die Verfassung eines Reichs zu ändern als den Sitzungstermin einer Stadtverordnetenversammlung, weil Änderungen in einer großen Gruppe dem Angehörigen wenig fühlbar werden, von ihm also leicht angenommen werden – und weil die geringste Schwankung etwa in einer Familie sofort schwere Folgen für das Individuum haben kann –: deshalb sind viele Staaten geneigt, in der Schweiz Erklärungen abzugeben, die sie nachher ihren Parlamenten augenzwinkernd tragbar zu machen suchen. Der stete Hinweis in allen Parlamentskommissionen ist: »Meine Herren, so schlimm ist es gar nicht – wir mußten diese Geste machen, weil wir unsere Friedfertigkeit vor der Welt dokumentieren wollen. In Wirklichkeit wird ja damit nichts geändert« Beweis: die Innenpolitik.

Daß wir vom Völkerbund, der ein Anfang und kein Ziel ist, ein Mittel und kein Zweck, nach sieben Jahren nichts Vollendetes verlangen dürfen, ist klar. Es besteht aber zwischen der Haltung eines Staatsmanns in Genf und in seiner heimatlichen Hauptstadt ein Unterschied, der die herbste Kritik am Völkerbund vom pazifistischen Standpunkt aus rechtfertigt – und das ist der Mangel seiner Rückwirkung auf die Innenpolitik.

Wo ist die leiseste Rückwirkung einer internationalen Verständigungspolitik in unsrer Innenpolitik?

Von Geßler ist ernsthaft nicht zu reden. Seeckt, dieser klügste deutsche Politiker mit der weitesten Sicht, rüstet bewußt und energisch auf. Niemand streicht ihm auch nur einen wesentlichen Posten im Etat.

An den Universitäten wird die Jugend in den Fächern, auf die alles ankommt, vielfach noch im Geiste der alten Zeit unterrichtet. Wo finden Kollegs über Völkerbundfragen statt? Wo gibt es Lehrstühle der Friedensbewegung?

Auf den höheren Schulen wird noch immer nicht energisch eingeschritten, wenn Oberlehrer im Geiste der wilhelminischen Zeit eine verfälschte, verlogene und tendenziös bearbeitete Kriegsgeschichte lehren, deren grobe Fehler und Unwahrheiten jeder Vater feststellen kann, der diese Zeit miterlebt hat.

In den Volksschulen auf dem Lande ist es nicht besser – in vielen Städten auch nicht.

Die Rückwirkung der schweizer Besprechungen auf die Innenpolitik fehlt. Und sie wird von keinem der beteiligten Staaten reklamiert, erstens, weils keiner besser macht, und zweitens aus heiliger Scheu vor der »Unabhängigkeit« der andern.

Nun ist diese Unabhängigkeit eine glatte Lüge.

Kein Staat ist heute mehr »frei« – er ist der Industrie, den Ackerbauinteressenten, den Banken der internationalen Finanz ausgeliefert und kann nichts ohne sie tun. Wenn eine Freiheit gemeint sein kann, so ist es die, sich die eigenen Ausbeuter aussuchen zu können – in dieser Beziehung ist jeder Staat halbwegs frei. Der Rest sind Fahnen, Feldprediger und Fisimatenten.

Tatsächlich hat kaum einer der Premiers, die im Völkerbund vorsichtige und altschablonierte Reden halten, auch nur die Macht, einen Locarno-Geist, wie man das heute nennt, bei sich zu Hause ernsthaft zu verwirklichen.

Er wage es einmal, gegen diesen mystischen Schwindel des »Frontkämpfers« vorzugehen, etwa laut zu sagen: »Die Teilnahme am Kriege macht aus kleinen Spießern keine Helden, keine neuen Menschen« – er wage es. Er wage es, in den Schulen neue Geschichtsbücher einzuführen, die den Staatenunfug auf sein richtiges Maß zurückführen, die den Krieg verdammen oder ihn zum allermindesten nicht feiern – er wage es, auf die Lehrstühle der Universitäten Pazifisten zu setzen – er wage es, ehrlich abzurüsten. Er kann es nicht wagen. Es reicht gerade zum Gehrock in der internationalen Konferenz.

Ich weiß genau, was die deutschen Offiziellen darauf erwidern: »Ja, aber Frankreich!« – »Ja, aber England!« – Man muß von keinem Politiker verlangen, dass er die Geschichte kennt, dass er etwa weiß, wie mitunter das moralische Beispiel erstaunliche Wirkungen gehabt hat und dass sogar Anstand anstecken kann. Von den Anfängen des Christentums ganz zu schweigen, auf dessen ursprüngliche Waffenlosigkeit die Herren so stolz sind.

Solange sich der Völkerbund nicht entschließt, mit der falschen Vorstellung von der Unantastbarkeit des Staates aufzuräumen, so lange werden wir keinen Frieden haben. Es ist nicht wahr, dass man sich nicht in die Innenpolitik fremder Staaten mischen dürfe – eine Innenpolitik ohne Rückwirkung nach außen gibt es heute nicht mehr, wenn es sie je gegeben hat. So, wie kein Mieter das Recht hat, in seiner Wohnung Feuer anzuzünden, mit der Berufung auf die Heiligkeit des Heims, sowenig dürften Staaten ohne Gefährdung des Friedens Innenpolitik auf eigene Faust machen, soweit diese den Frieden in Frage stellt. Wir wohnen nicht mehr in einzelnen Festungen des Mittelalters, wir wohnen in einem Haus. Und dieses Haus heißt Europa.

Sieht man von gewerbsmäßigen Mördern, Rüstungsindustriellen und einer mißleiteten und verhetzten Universitätsjugend ab, so gibt es keinen anständigen Menschen, der nicht wünschte, das Grauen eines Krieges zu vermeiden. Um ihn zu vermeiden, haben wir zunächst einmal damit zu beginnen, den irrsinnigen Standpunkt der »Ehre« aus allen Verhandlungen auszuschalten – solange die Welt steht, sind kaufmännische Verhandlungen noch niemals unter Zugrundelegung eines »Prestige« geführt worden, sondern stets zweckmäßig, kaufmännisch und nichts als das.

International sein heißt nicht: seine Interessen aufgeben. Und nicht der Krieg ist der Vater aller Dinge, wie die Knaben übersetzen, die den Parademarsch besser beherrschen als das Griechische, sondern: der Kampf ist der Vater aller Dinge. Immer werden Meinungsverschiedenheiten ausgefochten werden, immer wird der Klügere oder der Gerissenere oder manchmal der sittlich Höhere siegen – niemand verlangt von Deutschland, dass es zu Kreuze kriecht. Kämpfen soll es.

Aber es soll keine Kriege entfesseln. Es hat kein Recht, wie kein Staat das Recht hat, über das Leben der Staatsbürger zu verfügen. Und um dieses scheußlichste Verbrechen, den Krieg, zu vermeiden, zeige es seinen Willen, da zu bessern, wo einzig zu bessern ist. In der Innenpolitik. Hier ist die Keimzelle eines neuen Schlachtens.

Ignaz Wrobel
Die Friedenswarte, Juli 1926, Nr. 7, S. 210.