Berliner auf Reisen
Das mit dem Jägerhütchen ist ja schon längst nicht mehr wahr, und auch die Brille ist kein untrügliches Kennzeichen. Doch unter dem dicken Ulster, dem schnittigen Jackett und dem nach Maß gearbeiteten Oberhemd klopft das alte Herz. Welches –?
Es gibt zwei Sorten von Berlinern: die ›Ham-Sekein-Jrößern?‹-Berliner un die ›Na – faabelhaft‹-Berliner. Die zweite Garnitur ist unangenehmer.
Der nörgelnde Berliner ist bekannt. Er vergleicht alles mit zu Hause, ist grundsätzlich nicht begeistert, und, viel zu nervös, um in Ruhe etwas Fremdes auf sich wirken zu lassen, bekleckert er, was er sieht, mit faulen Witzen. Seine Stadt hat für diese Tätigkeit das schöne Wort ›meckern‹ erfunden. Dieser Berliner meckert.
Sein Kollege, der ›Unerhöört‹-Berliner, tut etwas andres, nicht minder Schauerliches.
Ich habe jetzt seit etwa achtzehn Monaten lobende Berliner vor Augen gehabt, und wenn sie anerkennen, machen sie das so:
Der lobende Berliner hebt sich zunächst selbst, wenn er lobt. Sein Lob, das meist kritiklos und unbegründet ist, bringt ihn in innige Verbindung mit dem gelobten Objekt, nach der Melodie: »Was ich mir ansehe, ist eben immer gut – sonst seh ichs mir gar nicht erst an!« Ein Glanz des Belobten fällt auf ihn zurück, sein »Faabelhaft« gilt auch dem auserlesenen Publikum, das sich diese Sehenswürdigkeit ansehen darf, und enthält ein erhebliches Quantum Verachtung für die armen Luder, die nicht dabei sind.
Die Monomanie dieses Volksstamms ist größer als bei jedem andern. Daß Hundebesitzer auf ihren Köter stolz sind und sich in die Brust werfen: »Meiner läuft aber schneller!«, das ist auf der ganzen Welt so. Aber die ›Aura‹ des Berliners, sein unkörperlicher Körper reicht noch viel weiter: er erstreckt sich auf Zahnbürsten und Unterhosen, auf sein Automobil und auf seinen Füllfederhalter, auf alles, was bei ihm und mit ihm ist … Denn was er hat, ist wohlgetan, und so etwas gibts zum zweiten Mal nicht auf der Welt. Er sagts auch: »Wenn Se mal richtjen Kaffee trinken wolln, müssn Se zu mir kommen!« Und da der andre selbstverständlich nicht die einzig wahre Kinderflaschenquelle, nicht den Schneider, nicht den Zahnarzt hat, so strahlt die Sonne allein im Universum. Und hat der Nebenmann etwas, das er nicht auch haben kann, ja, an dessen Bewunderung sogar er nicht teilnehmen kann, dann ist es aus, und das Zeug verfällt der Verdammnis. Überall dabei sein; von allem verstehn; nur nichts auslassen: das sind die drei Farben seiner Stadt.
Hat der Berliner aber einmal gelobt, dann gibts keine Widerrede und vor allem nichts mehr am Ort, was nun noch des Lobes wert wäre. »Wenn Se den nich jesehn ham, ham Se übahaupt nischt jesehn –!« Dixit.
Die Form des berliner Lobes läßt deutlich erkennen, wie sehr der Tadel in dieser Stadt das Primäre ist – es wirkt immer wie ein ins Freundliche umgebogener, für dieses Mal nicht anwendbarer Tadel. »Das ist schon sehr begabt!« – wieviel Huld, wieviel Leutseligkeit steckt darin! Dies Lob grüßt wie eine dicke Hand aus einer hochherrschaftlichen Limousine.
Bevor der Berliner aber tadelt oder lobtadelt, setzt er sich gestrafft aufs Richterstühlchen, und niemals, unter keinen Umständen, ist er locker und unbefangen. Er will diss nu mal genau feststellen – und die eingezogenen Lippen und das leicht zurückgenommene Kinn demonstrieren, wessen sich das Objekt der Kritik zu gewärtigen hat. »Na, nu zeijen Sie mal, was Sie könn!« Worauf sich Notre-Dame, Sacha Guitry, die Seine und die Sonne in Chantilly abzuschwitzen haben.
Rasch fertig ist die Jugend mit dem Wort –? Dann scheint der Berliner ewig jung, jünger, noch jünger. Seine grauenhafte Unausgeglichenheit und seine ewig schwabbrige Nervosität lassen keinen Klang ausklingen – mit zitternden Nervenenden wartet er auf den ersten Eindruck, und hat er den, bleibt er dabei. Den wiederholt er dreitausendmal – unmöglich, ihn davon abzubringen, »Die Unterpartie ist zu kurz«, entscheidet er nach zehn Sekunden – den ganzen Abend zieht sich das wie ein Leitmotiv durch Unterhaltung, Kritik und Zwiegespräch, und noch abends im Bett, wenn er das Licht löscht, murmelt er, leicht beleidigt: »Ja, aber die Unterpartie war zu kurz … «
Der Berliner ist bekanntlich einer der schlechtesten Zuhörer – er will selber. (Daher können ihm auch die Frauen im allgemeinen nichts tun.) Und ich habe mich immer gewundert, warum weitgereiste Berliner so gar nichts von ihren Reisen mit nach Hause bringen … Jetzt weiß ich es. Sie hören nicht zu. Wenn die Sonne über dem Meer untergeht, wenn einer singt und eine tanzt, wenn Paris silbrig leuchtet, und wenn die Damen aus Lemberg abends lebende Gruppen stellen: der Kerl hört nicht zu. Er bringt das Subjekt, das zum Begriff ›Welt‹ bekanntlich hinzukommen muß, erst richtig zur Geltung. Ohne ihn ist sie nicht.
Die armen Leute … Sie sind sich selber im Weg, ihr Bauch ist ein optisches Hindernis, und wenn sie sich mal richtig amüsieren wollen, gucken sie sich in den Spiegel. Ihr Tadel ist ein persönlicher Frontalangriff, ihr Lob eine Ordensverleihung an sich selbst, und man greift kaum fehl, wenn man dahin geht, wohin der Berliner keinen Schritt rührt. Berlin ist so groß: es hat vier Millionen Einwohner. Berlin ist so klein: auf Reisen sieht der Berliner nicht über den Spittelmarkt. Und ewig werde ich an das Wort eines Landsmanns denken, der nach vierwöchigem Aufenthalt das Wort der Worte über Paris gesprochen hat. Dieses:
»Paris – wat is denn det für ne Stadt! Hier jibts ja nich mah Schockeladenkeks –!«
Der dies sprach, war aber gar nicht aus Berlin, und da kann man sehen, wie vorsichtig man sein muß.
Peter Panter
Die Weltbühne, 19.01.1926, Nr. 3, S. 111.