Wo waren Sie im Kriege, Herr –?
Que faisiez-vous en 1870? Cette interrogation, si fréquente aujourd'hui encore, n'aura plus de sens pour la prochaine génération.
Léon Bloy
Als die Druckerschwärze um den Tod Paul Cassirers haushoch aufspritzte, gewann eine nationale Zeitung über sich, dem Toten einen schwarzweißroten Lappen ins Grab nachzufeuern: der schwärzeste Tag in seinem Leben sei der gewesen, wo man ihn in den feldgrauen Rock habe stecken wollen; da habe er den Tod gefürchtet, der ihm jetzt so willkommen gewesen sei. In goldenen Lettern leuchte auf diesem Grabstein: Drückeberger.
Ich weiß nicht, was Paul Cassirer im Kriege getan hat, und es ist mir auch ganz und gar gleichgültig. Weil ich aber weiß, was die meisten Deutschen – auch Pazifisten – antworten, wenn man ihnen die Frage stellt, wo sie denn im Kriege gewesen seien, so scheinen mir einige Bemerkungen angebracht.
Für einen anständigen Menschen gibt es in bezug auf seine Kriegshaltung überhaupt nur einen Vorwurf: dass er nicht den Mut aufgebracht hat, Nein zu sagen. Einem Pazifisten zu erzählen, er sei kein begeisterter Soldat gewesen, ist ungefähr so, wie einem Vegetarier vorzuwerfen, dass er auf einem Schlachtfest gekniffen habe. Aber im Pazifismus, in der Demokratie, unter der Opposition gibt es leider so viel Halbseidene, die dem Gegner den Gefallen tun, auf etwas, was ein Lob ist, als auf einen Vorwurf hereinzufallen. Sie verteidigen sich, anstatt anzugreifen.
Neben der großen Masse der Indifferenten hat es, besonders zu Anfang des Krieges, viele junge Leute gegeben, denen schlechte Schulbildung, mangelnde Erziehung, die Hetzarbeit von Universität, Presse und Kino eine Erkenntnis des modernen Krieges nicht ermöglicht haben. Sie glaubten ganz ehrlich, einer guten Sache zu dienen; sie glaubten fest daran, dass Deutschland überfallen worden sei, so, wie die Franzosen und die Russen dasselbe von ihren Ländern glaubten – diese jungen Leute meldeten sich freiwillig und gingen in den sinnlosesten Tod. Für sie hatte er Sinn. Ihre umnebelten Gehirne, ihre niedergehaltenen Instinkte sahen hier das Abenteuer, Buntheit, Sport, Gefahr – und die niedrigste Menschensorte, die Feldpfaffen der drei großen Konfessionen, versicherten ihnen, dass ihr Tun nun auch noch, zu allem Überfluß, moralisch sei. Die Opfer dieser Massenbesoffenheit sind nicht zu tadeln, sondern zu bedauern. Wer im Kriege gefallen ist, ist für einen Dreck gefallen.
Wie verhalten sich nun bei einer solchen Sachlage viele Pazifisten, wenn man sie fragt: »Wo waren Sie im Kriege –?«
Sie drehen sich. Sie winden sich. Sie reden sich aus. Sie wollen ihren ethischen Standpunkt nicht verlassen, wollen aber auch nicht zugeben, feige gewesen zu sein. Im Gegenteil: es gibt sogar manche, die noch stolz auf ihre Mordtaten sind und erklären: Durch diese Morde habe ich erst das Recht erworben, Pazifist zu sein. Ich war ein tapferer Soldat – hier meine Orden, meine Kriegsandenken, meine Papiere –: ich war kein Drückeberger.
Es gibt Ausnahmen. So hat der tapfere Sekretär der republikanischen Beschwerdestelle einer Provinzzeitung in Braunschweig die richtige Antwort erteilt, als die aufschäumte: crimen laesae rei militaris! Der Sekretär schrieb ihnen, er tue der Uniform noch viel zu viel Ehre an, wenn er sie ›Militärkostüm‹ nenne, und das Blättchen fiel vor Schreck aus der deutschen Grammatik. Aber dieser Republikaner ist ein bißchen allein. Andre paktieren.
Ich halte diese Taktik und diese Halbheit für falsch. Man kann, wie die Schönaich und Schützinger, sagen: Wir haben damals nicht gewußt – heute wissen wir. Wir waren im patriotischen Dämmer – heute sehen wir klar. Verzeiht uns, dass wir getötet haben! Daß aber erst Grabenkampf und vertiertes Soldatensein zum Antimilitarismus legitimieren, will mir nicht einleuchten. Was hier fehlt, ist Zivilcourage.
Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte – und ich bedaure, dass ich nicht, wie der große Karl Liebknecht, den Mut aufgebracht habe, Nein zu sagen und den Heeresdienst zu verweigern. Dessen schäme ich mich. So tat ich, was ziemlich allgemein getan wurde: ich wandte viele Mittel an, um nicht erschossen zu werden und um nicht zu schießen – nicht einmal die schlimmsten Mittel. Aber ich hätte alle, ohne jede Ausnahme alle, angewandt, wenn man mich gezwungen hätte; keine Bestechung, keine andre strafbare Handlung hätte ich verschmäht. Viele taten ebenso.
Und das nicht, weil wir etwa, im Gegensatz zu den Feldpredigern, Feldpastoren, Feldrabbinern, die Lehren der Bibel besser verstehen als sie, die sie fälschten – nicht, weil wir den Kollektivmord in jeder Form verwerfen, sondern weil Zweck und Ziel dieses Krieges uns nichts angehen. Wir haben diesen Staat nicht gewollt, der seine Arbeiter verkommen läßt, wenn sie alt sind, und der sie peinigt, solange sie arbeiten können; wir haben diesen Krieg nicht gewollt, der eine lächerliche Mischung von Wirtschaftsinteressen und Beamtenstank war, im wahren Sinne des Wortes deckte die Flagge die Warenladung. Wir hatten auch nicht den kümmerlichsten Einfluß auf die Gestaltung der Politik, und Sieg und Niederlage berührten uns nicht. Was hätten wir davon gehabt, wenn Nancy, Antwerpen und Warschau deutsch geworden wären? Wir hätten uns unser Brot genau so verdienen müssen wie vorher – genau so leicht und genau so schwer, denn Beamte im neueroberten Gebiet haben wir nicht werden wollen. So, wie einem Calvinisten wohl verständlich gewesen ist, dass man gegen ihn war, aber nicht, dass man sich um den Streit der Sekten überhaupt nicht kümmerte, so kümmert uns der Nationalismus, dieser Nachfolger der Religion, nur insofern, als es gilt, ihn zu bekämpfen. Er läßt uns kalt.
Und das ist die einzige Antwort, die an die Sachwalter des falschen Kollektivwahns zu erteilen ist:
Ihr interessiert uns nicht. Wir erkennen die Pflichten nicht an, die ihr uns auflegt – möglich, dass es Gebote gibt, die unser Blut und das unsrer Kinder fordern: der Patriotismus, der Kampf für diesen Staat gehören nicht dazu. Wenn sich der Russe in die Rote Armee einreihen läßt, so kämpft er für seine Idee – ihr wirtschaftet für die Ideenlosigkeit und für ein Vaterland, das es nicht mehr gibt. Nicht das ist ein Einwand gegen die Telefon-Generale, dass viele unter ihnen feige gewesen sind und roh, nicht nur das, dass Ungerechtigkeiten vorgekommen sind und die empörende Praxis der Militärgerichte, nicht, dass ein höherer Grad den Offizier aus der Sphäre der Soldaten heraushob und einen Verwaltungsbeamten aus ihm machte: der Sinn des staatlichen Krieges selbst wird von uns verneint. Und käme der edelste, der reinste, der tapferste Mann und forderte uns auf, für die Rohstoffabteilung seines Ministeriums in den Tod zu gehen: wir schüttelten das Haupt und ließen ihn seinen Krieg allein machen.
Solche Sätze müssen gesprochen werden, dreimal am Tage. Ich kenne alle diese vorsichtigen Pazifisten, den Führer des Reichsbanners, diesen unsäglichen ›Reichsbund jüdischer Frontsoldaten‹ oder wie das Monstrum heißt, wo sich geprügelte Deutsche an prügelnde Deutsche anmeiern: Seht uns an! auch wir sind imstande, die Peitsche zu führen! auch wir wollen Reklamedenkmäler für den nächsten Krieg, Weihegesang und Lüge um die Toten. Und es nützt ihnen nicht einmal. Mit Recht dreht sich der Monokelträger um, läßt das Monokel fallen und feixt. Verachtet und die Aufrechten verachtend, zieht so etwas vom Empfang beim Reichspräsidenten wieder nach Hause: Auch wir sind eine nationale Organisation … ! Arme Luder.
Unser Leben gehört uns. Ob wir feige sind oder nicht, ob wir es hingeben wollen oder nicht –: das ist unsre Sache und nur unsre. Kein Staat, keine nationale Telegrafenagentur hat das Recht, über das Leben derer zu verfügen, die sich nicht freiwillig darbieten. Und so gewiß der nächste Nationalkrieg unter den Farben Schwarz-Rot-Gold geführt werden wird, so gewiß diese mannhaften Republikaner aufstehen werden wie ein Waschweib, die Belange des Staats der andern zu schützen: so nötig ist es, den Antimilitarismus rein zu halten von Kompromißlern. Deine Rede sei Ja – Ja oder Nein – Nein; was darüber ist, gehört in den Verlag Eugen Diederichs.
Da gehen sie umher und schnüffeln die alten Militärpapiere durch, und die Inhaber stehen gehorsam stramm und geben Auskunft. Hat der Abgeordnete Dittmann auch seinen Stubendienst gut gemacht? Hat der Kommunist Obuch beim Griffekloppen nicht nachgeklappt? Mögen sich andre dagegen verteidigen. Wir, wir greifen an.
Wir fragen den Bankprokuristen: »Wo waren Sie im Kriege, Herr –?« und sehen auf ihn herab, wenn er sich rühmt, einen Schwarzen erwürgt zu haben, um eines Geschäftes willen, von dem er nichts nach Hause trug als ein Stückchen Blech. Wir bedauern den Einbein, dem sie für seinen Fuß ein eisernes Kreuz gegeben haben, und es gibt wohl nur einen Menschen, dem man diese Frage mit vollem Recht stellen darf: das ist der, auf dessen Namen vierzehn Millionen Mann vereidigt worden sind. Der Kaiser. Dieser Feigling, erzogen im militärischen Geist, entband sich von einem Schwur und kniff aus, als zum ersten Mal in seinem Leben die Lage gefährlich wurde. Dafür bezahlt ihn heute noch die Republik.
Wir andern aber geben keine Rechenschaft und stehen nicht artigwartend da, wenn man uns fragt, und erröten nicht, wenn wir gleichgültig davon sprechen, wie wir es gemacht haben, um einen Tropf von Regimentsarzt zu täuschen, einem Bataillonskommandeur ein Schnippchen zu schlagen, ein Bezirkskommando zu hintergehn. Wir haben eine Antwort auf diese Frage: »Wo waren Sie im Kriege, Herr –?«
In einer Affenjacke.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 30.03.1926, Nr. 13, S. 489,
wieder in: Mit 5 PS.