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Vorwärts –!

Wer, wie wir, vom ersten Tag nach dem Waffenstillstand an für Aufklärung über das Verbrechen der deutschen Militärs und ihrer Helfer gesorgt hat, ist wohl berechtigt, vor den lawinenhaften Publikationen, Diskussionen, Vorträgen, Büchern, Zeitungsartikeln, Broschüren und Streitschriften über den Krieg ein Wort zu sagen, das erklärt werden muß, wenn man uns recht verstehen soll. Dieses Wort heißt:

Genug.

So, wie die deutsche Linke den psychologischen Moment im Jahre 1918 verpaßt hat, damals, als der Alldeutsche Verband und die nachmaligen Fememörder, die Rupprechte und die falschen Wilhelms, die Richter und die Staatsanwälte still zu Hause saßen und in richtigem Instinkt ängstlich warteten, dass etwas geschähe, was sie jedenfalls rechtens über ihre Gegner verhängt hätten – so hat der deutsche Pazifismus den Augenblick verpaßt, wo ein Volk bereit war, auf ihn zu hören. Dieser Augenblick lag in den Monaten, die unmittelbar dem Kriege folgten.

Da waren die Leiden frisch, und die Wunden schmerzten; da brannte die Erinnerung, und da zitterte das ungeheure Erlebnis lebendig nach; da wußte jeder zu bestätigen und zu erzählen und tats gern, weil er endlich, endlich sprechen durfte – da war viel zu machen. Es ist so gut wie nichts getan worden. Als die Generale ihre Memoiren beendet hatten und die Uniformierten ihre Reichswehr: da war es zu spät.

Weil aber das deutsche Volk ein besinnliches Volk ist, deshalb gelang der gegnerischen bewußt betriebenen Propaganda etwas, das bei sonst keinem Volk der Welt gelungen wäre – nämlich jahrelang nach der Katastrophe die Walze der Zeit zurückzudrehn und mit einer Lügenaufklärung einzusetzen, die bei andern sofort oder niemals gewirkt hätte: mit der endlosen, rückwärts gekehrten Debatte: Wer ist schuld?

Dieses Gesellschaftsspiel währt jetzt sieben Jahre. Seit sieben Jahren hören wir ununterbrochen die Taten der einen rühmen und die der andern verdammen, aber nicht, um aus den Irrtümern, die begangen worden sind, zu lernen – sondern: um neuer politischer Propaganda willen. Und alle gehen mit. Wir sehen, heute noch, im Jahre 1926, rückwärts.

Daß wir Pazifisten aus einer Weltkatastrophe immer, unser ganzes Leben lang, Bilder und Material beziehen werden, um seine herannahende Wiederholung zu bekämpfen, ist klar. Daß der Tod von zwölf Millionen Menschen nicht einfach an den Menschen unsrer Generation vorübergehen darf, ist selbstverständlich. Aber es gibt nur eines, womit wir arbeiten sollten: mit den fertigen Lehren, die wir zu ziehen immerhin Zeit gehabt haben. Mit dem abschließenden Urteil. Wir treten immer wieder in die Verhandlung ein. Statt hinzurichten, vernehmen wir Zeugen.

Die Tatsache der deutschen Niederlage allein erklärt das nicht. Es gibt kein Volk auf der Erde, das noch so viel vom Krieg spricht wie wir und so vom Krieg spricht wie wir. England ist längst darüber hinaus, und auch Frankreich sieht den heutigen Tag, ohne den gestrigen zu vergessen. Wo leben wir? Im Jahre 1926 –? Blickt man in unsre Zeitungen, Zeitschriften, Literatur, Versammlungssäle, so glaubt man, im Jahre 1920 zu stecken. Warum –?

Daran ist zunächst die betrübliche Tatsache schuld, dass nichts bei uns so überaltert ist wie Publizistik und Politik. Und weil jeder Mensch die Erinnerungen, die Erlebnisse, die er in der Vollkraft seiner Jahre oder in der Jugend gehabt hat, meist bis an sein Lebensende weiterspinnt und stets glaubt, diese Ereignisse seien das Wichtigste nun für alle, während sie doch nur für ihn wichtig waren, der sie so scharf aufgenommen hat wie nie mehr andre, weil es Leute gibt, die sich ihr ganzes Leben lang immerzu erinnern: deshalb werden wir und namentlich die nach uns kommen mit keinem Quentchen Einzelheiten verschont, die jene uns mitzuteilen haben – ohne die bündigen Lehren zu ziehen, ohne ihre gewonnenen Erfahrungen zu nützen, ohne mit fertigen Urteilen zu wirken. Es ist eine Erinnerung um der Erinnerung willen. Da ist aber noch etwas.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die gesamte Rechte in den Blutjahren so eine Art Hoch-Zeit erlebt hat, eine innigst wiederherbeigesehnte Epoche, wo Ärzte zu Halbgöttern, Polizei-Supernumerare zu Göttern und Privatdozenten zu leibhaftigen Hauptleuten aufrückten … Das vergißt sich nicht. Und davon sprechen sie nun ununterbrochen, kramen ihren Stammtischtopf vor uns aus, berichten und widerlegen, schnabbern wie alte Weiber und übertreiben wie grüne Jungen. Und wir hören artig zu.

Die unendlich geschickte Propaganda des Dolchstoßes kam hinzu. Es ist ja nicht wahr, wenn heute gesagt wird: die Dolchstoßlegende sei zerstört. Sie hat ihr Werk getan. Ob in belanglosen Gerichtsformalitäten ihre ›Wahrheit‹ oder ›Unwahrheit‹ erwiesen wird, tut dem, was sie geschadet hat, keinen Abbruch. Ihr Sieg ist nur erklärlich, wenn man weiß, dass wir fast die ganze Zeit in der Defensive gestanden haben.

Die andern haben den Ton angegeben – nicht wir. Die andern haben bestimmt, was in der uns aufgedrungenen Geschichtsstunde durchgenommen werden sollte – nicht wir. Die andern haben Friedrich den Zweiten aufs Pflaster gezerrt. Wir durften abwehren, gegenbeweisen, uns mit der Widerlegung von Lügen plagen. Wir verteidigten. Wir griffen selten an.

Ich denke, dass es nach sieben Jahren genug ist.

Wer abgeschlossene Urteile bringt, soll uns immer willkommen sein. Wer an diese oder jene Einzelheit aus den Mordjahren erinnert, kurz und knapp, um einen bereits vorhandenen Schluß mit einem neuen Argument zu stärken – her zu uns! Wenn aber ein pensionierter Hauptmann zum dreihundertsten Mal seine taktischen und politischen Künste wiederkäut, wenn uns bis zur Erschlaffung eingetrichtert werden soll, warum damals die fünfte Brigade bei Pushbideize zurückgenommen worden ist, und warum der Staatssekretär v. Bogenhausen dem Vorschlag aus Rom am 23. März 1917 nicht nähertreten konnte: so jage man diese verstaubten Burschen mit einem Fußtritt in die Ecke und rufe: Kusch! Wir wollen das nicht mehr wissen.

Wir wollen es auch von unsrer Seite nicht mehr wissen. Pazifisten, Kriegsgegner, Kommunisten – sie haben allen Anlaß, zurückzugreifen, wenns die Sache erfordert. Aber nicht mit dieser heillosen Verehrung vor dem Geschehnis, nicht mit dieser historischen Herrschermiene, als besage die minuziöse Auseinanderwicklung jener Verhältnisse irgend etwas für uns Heutige. Sie gibt uns nichts. Denn noch niemals haben Menschen aus der Geschichte gelernt, und sie werden es auch in Zukunft nicht tun. Hic Rhodus.

Hat denn keiner den Mut, den aufgewärmten Rotkohlern endlich einmal zu erwidern: Das interessiert uns nicht, weils belanglos geworden ist –? Wir stärken ja das Hochgefühl und die Überzeugung von der persönlichen Wichtigkeit der andern, wenn wir jedem sanft geröteten Brigadekommandeur den Gefallen tun, auf sein Denkmalsgewäsch zu antworten, einzugehen, staubige Quellenstudien zu machen und ewig in einer Bücherkiste zu wühlen, die längst muffig geworden ist. Niemals haben wir denen die Hinfälligkeit ihres Systems durch Schweigen erklärt, niemals durch Interesselosigkeit auf der ganzen Linie gezeigt, dass wir neues wollen und andres, in dem sie keine Rolle zu spielen bestimmt sind. In Wahrheit steht noch ein halbes Volk vor den Machthabern der alten Tage stramm, und noch in der Grußverweigerung ist soviel heimliche Angst. Schweigen und vorübergehn. Das sollten wir tun.

Das fertige Urteil soll immer wieder angenagelt werden, wenn möglich: als Steckbrief. Das Urteil, in dem steht: wer seine Sache schlecht geführt hat; wer ausgekniffen ist; wer heute Geld bekommt und wer nicht; wer die Katastrophe verursacht, nicht verhindert, wer sie gefördert, vorbereitet hat; wer schuld ist. Die Verhandlung selbst ist vorbei.

Und so gibt es einen Wunsch zum Jahreswechsel:

Schaut nicht mehr rückwärts und begebt euch nicht aller Rechte, indem ihr euch mit uniformierten Verbrechern auf eine Stufe stellt. Ist ihre körperliche Bestrafung, durch unsre eigne Schuld, nicht mehr möglich, so straft sie, so gut ihr heute noch könnt. Treibt die Zeit an ihnen vorbei. Und haltet euch nicht auf.

Haben sie Nachwuchs gezüchtet, der der Epoche zuwiderlebt, so schlagt auf den. Der verdients. Aber ignoriert die Alten, die Abgetakelten, die Geschlagenen, die, die ihrer Zeit nicht gewachsen gewesen sind. Die Welt hört nicht mit Herrn Hindenburg auf und nicht mit Herrn Noske; der Kaiser schließt die Geschichte nicht ab und nicht Herr Scheidemann. Wie jeder im einzelnen Moment gehandelt hat, ist ganz und gar gleichgültig. Die Fehler sind gemacht worden, die Verbrechen sind begangen worden, die Fahnenflucht ist begangen worden. Und man soll diese ausgedienten Bälge dahin werfen, wohin sie gehören: zu den ollen Kamellen.

Rückwärts blickend, die Arme verlangend, abwehrend, lockend und drohend in die Vergangenheit gestreckt, den Hintern der Gegenwart zugekehrt, langsam schreitend, immer rückwärts, rückwärts blickend – so geht ein Volk seine Bahn.

Eines wünsche ich uns allen:

Daß wir endlich vorwärtsblicken.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne, 05.01.1926, Nr. 1, S. 1.