Franzosen untereinander
Die »Abteil-Atmosphäre« in Frankreich
»Kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt« – so stand hier im Dezember zu lesen –, »so entsteht im Abteil – – ja, wie soll man es nennen? Die Sache ist von der Psychologie noch nicht beschrieben worden … « Und nun folgte die ausgezeichnete Beschreibung jener Vorgänge, die wir alle kennen: die leichte Totschlagsatmosphäre zwischen den Reisenden, der Haß auf den, der dazusteigt – und alles das. »Aber Behagen und Komfort hören dort auf, wo der Nebenmensch anfängt«, schloß der Artikel. Wie sieht das in Frankreich aus? – Ganz anders.
Pariser Métro, Vorortbahn und D-Zug zeichnen sich hierdurch aus: es entsteht keine Atmosphäre. In der berliner Untergrundbahn wird viel mehr geflirtet, zwischen Berlin und Wannsee gibts mehr Krach, und vor und hinter Halle herrscht tatsächlich die beschriebene »Atmosphäre«. Franzosen untereinander aber sind neutral, was mir ein Zeichen von wahrem großstädtischem Charakter zu sein scheint; denn nur der Provinzler nimmt den Nachbarn persönlich, wie ers von Hause gewohnt ist. Davon ist in Frankreich nichts zu spüren.
Was das Leben in diesem Lande so angenehm macht, ist eben die Tatsache, dass sich das Behagen am Nebenmenschen nicht stößt. Die Nerven liegen gelockert und nicht gespannt – der Nebenmensch kümmert sich um dich überhaupt nicht, freilich darfst du dich um ihn auch nicht kümmern. Er machts dir leicht, denn er ist viel mehr als rücksichtsvoll: er bleibt in seinen Grenzen und ist meist außerordentlich zurückhaltend. Die »leichten« Romanen kommen – auch in der dritten Klasse – miteinander viel schwerer ins Gespräch, als das in Deutschland der Fall ist – und ein eiferndes politisches Gespräch unter Fremden habe ich in der Bahn noch niemals zu hören bekommen. Der Franzose ist keineswegs »galant« und behandelt Damen in der Öffentlichkeit nicht so gut wie der Engländer – aber untereinander kommen die Leute viel besser miteinander aus als die Deutschen, weil sie keine falschen Ansprüche stellen und weil sie erwachsener sind. Der Vorschlag etwa, über ein zu öffnendes Abteilfenster abstimmen zu lassen, würde in Frankreich ausgelacht, aber niemals verstanden werden – darüber gibt es keinen Streit, man gibt nach, und niemand beharrt auf einem »Recht«, das es ja in diesem Fall, entgegen der deutschen Meinung, nicht gibt. Die ewig gereizten deutschen Nerven suchen fast einen Widerstand im andern – die französischen ruhen, sie zittern nicht, wenn einer dazusteigt. In anderthalb Jahren bin ich auf 1 Stück Ekel in der Bahn gestoßen, und einen »Krach« auf der Bahn habe ich überhaupt noch nicht gehört, auch sonntags nicht, auch im letzten Abendzug nicht. Die Stimmung ist nicht einmal mit der sonntäglichen Atmosphäre in Deutschland zu vergleichen, wo die Leute ja schon fröhlicher und ausgeruhter sind – sie ist viel neutraler, viel unpersönlicher – sie ist, sozusagen, überhaupt nicht da.
Franzosen sind keine bessern Menschen – denn Engelsvölker und Teufelsvölker gibt es nicht. Sie scheinen mir aber eines herauszuhaben, was uns gänzlich fehlt: sie sind im Umgang mit dem Nebenmenschen praktischer, sie verschwenden nicht diese ungeheure Energie, die wir vergeuden, um recht zu haben, recht zu behalten, zu triumphieren. Und das geht weit über die Eisenbahn hinaus.
Treffen zwei Deutsche zusammen, so entsteht fast immer ein stummer Streit: wer mehr ist. Die Franzosen sind – in ihrem Alltagsleben – wahre Demokraten und sind es immer, auch unter ihren Kaisern und Königen gewesen –: sie leben miteinander und nebeneinander. Sie leben koordiniert, nicht subordiniert. Und weil keiner da ist, ders sich gefallen ließe, gibt es keinen, der schnauzt!
Peter Panter
Vossische Zeitung, 03.02.1926.