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Pariser Tage

Vorgestern

lag Caillaux auf einer Chaiselongue, quer und hintenübergelehnt, und ihm gegenüber Nitti; ich saß artig und bescheiden dabei und hörte zu. Das war bei Victor Basch. Als Caillaux hereinkam, verstummte einen Augenblick das Gespräch, er wurde vorgestellt, hatte es aber nicht nötig. Er erinnert an einen Obersten aus einem sehr guten Kavallerieregiment, aber er ist ohne jede Eckigkeit; als er einer Frau die Hand küßte, geschah das mit runder Geste und einer ausgekochten Routine, es sah aus, als sollte in einer Vorverhandlung bereits der ganze Vertrag unterschrieben werden. Dann erschien seine Frau, keine von den schmalen Pariser Figuren, eher etwas stärker, ich behielt die Erinnerung an eine freundlich lächelnde Maske, dahinter lauert sehr viel Energie. Dann also saßen wir drei in dem kleinen Zimmer.

Nitti sprach von den Jesuiten und ihrer Macht. Caillaux: »Ihr Organisationstalent ist bewundernswürdig, ihre Intrigenwirtschaft glorios. Ihre Pläne immer kindlich, eigentlich kindisch.« Wir sprachen über den deutschen Prozeß Keil, in dem behauptet worden war, Poincaré habe völkische Spitzel beauftragt, Material über Caillaux herbeizuschaffen. Ich erklärte, was in diesen Kreisen »Material« genannt wird – selbst Caillaux hielt Poincaré nicht für so dumm, sich mit diesem Schlamm in Verbindung zu setzen. Er erinnerte an Dreyfus und die damaligen Schmutzereien. Als er von Spionen sprach und vom »Poteau de Vincennes«, dem Pfahl, an dem die zum Tode Verurteilten standrechtlich erschossen werden, ließ er das Monokel fallen und lehnte sich noch lässiger hintenüber. Mir lief eine ganz kleine Gänsehaut den Buckel hinunter; wie nahe hatte er diesen Pfahl gestreift! Sein Prozeß hatte 1920 stattgefunden – wäre das im Kriege gewesen, so hätte man das Ergebnis vorausberechnen können. So aber ging der Biß des »Tigers« ins Leere, und das Zirkusprogramm hat nun gewechselt: das Raubtier schreibt dicke Bücher, »Demosthenes« heißt das letzte, der Braten sitzt auf der Chaiselongue und wartet seine Zeit ab. Da immer wieder dieselben Leute Politik machen, so wird auch seine Stunde noch einmal kommen. Nach so viel Enttäuschungen, Niederlagen, Siegen und Wendungen: man hat nicht gerade den Eindruck, neben einem Menschenfreund zu sitzen.


Gestern

habe ich einem Franzosen den Eiffelturm gezeigt. Er war noch nie oben, natürlich. In Berlin soll es ein Märkisches Museum geben, ich weiß nicht einmal, wo es liegt. Und über die Leute auf der Siegessäule habe ich immer freundlich gelächelt. Schließlich beschäftigen sich ja alle Menschen nur mit ihrem Tageskram. Ist »ganz Paris in Aufregung über Genf«? Die Fachleute vielleicht. Aber es ist eine Lüge der Historiker, zu behaupten, ein Volk sei politisiert. Das kleine Leben geht immer weiter.

Mittags lange Unterhaltung mit einem Kneipenwirt. Locarno? Die französischen Schulden an Amerika? Die neue Poesie? Nein, aber die Katze war lungenkrank, denken Sie nur, und da kenne ich aus dem Kriege einen Stabsarzt, der verkehrt hier im Lokal, und der hat mir diese kleinen gelben Pillen gegeben, hier, sehen Sie? Und davon ist die Katze gesund geworden. Die Gäste, die mit der Lunge nicht in Ordnung sind, nehmen die Pillen jetzt auch, und seitdem essen sie viel mehr. Die Katze liegt unterdessen auf dem »Zinc«, dem Schanktisch, und schnurrt mit halbgeschlossenen Augen. Sie ist geheilt und hat den Arzt längst vergessen. Das soll vorkommen.


Heute

hat mir Léon Bazalgette ein Heftchen zugeschickt: »George Grosz, l'Homme et OEuevre« (Les Ecrivains Réunis, 11 rue de l'Ancienne Comédie, Paris). In seinem kleinen Vorwort, das die Reproduktionen einleitet, ist sehr gut darauf hingewiesen, wie Grosz fast niemals die reine Natur schildert, immer Menschen, immer nur die Menschen. Wie Balzac. »Eine Gefahr für manche Gesichter« – doch, das ist er. Die französische Avantgarde kennt und schätzt Grosz. Und ist übrigens klug genug, das Internationale an ihm zu sehen. Er schildert ja auch viel mehr als nur gerade das Inflationsberlin.


Morgen

will ich zu einer kommunistischen Versammlung gehen. Ach, es wird nicht viel dabei herauskommen, und das Geschrei: Lenin ante portas –! ist eine Dummheit und ein Vorwand zu übeln Taten. Was ist denn der französische Arbeiter? André Lebey, der Freund des verstorbenen Symbolisten Pierre Louys und selbst ein ausgezeichneter Schriftsteller, sagte es neulich so nebenbei in einer Unterhaltung. »L'idéal de l'ouvrier français, c'est: rêver en révolutionnaire et vivre en petit bourgeois.«


Übermorgen

werde ich nun darangehen müssen, das Buch liegt schon aufgeschnitten und drohend da. Vater Daudet hat ein Buch geschrieben. Der Mann ist gewiß nicht unbegabt, als Pamphletist sogar sehr amüsant. Dieses Mal hat er es mit der Psychoanalyse. Er tobt dagegen: eine teuflisch-germanische Erfindung, Hektor, friß nicht! Das kommt vom Juden! Es lohnt nicht einmal, den Titel zu nennen, aber es ist doch drollig, zu sehen, wie immer, wenn eine Theorie auftaucht, die die braven Bürgergesetze von Schuld und Fehle antastet, das gleiche Gebell anhebt, allenthalben. Ja, es genügt schon, dass Einsteins Rechnungen verblüffend ausfallen, und es wird eine Parteisache daraus gemacht. Schon vor zwanzig Jahren hat Freud einmal berichtet, wie an einer amerikanischen Universität einer seiner Schüler auf das egoistische Element der Träume hingewiesen habe, und wie sich im Traum alles um das Ego drehte … Da stand eine Amerikanerin auf und sprach: »Der Verfasser ist Österreicher und kann wohl nur über österreichische Träume sprechen. Ich bin Amerikanerin. Was meine Träume anbetrifft, so sind sie immer streng altruistisch.« – »Ich weiß nicht«, sagt ein Arzt bei Roda Roda, »wie das bei euch in Königsberg ist – also bei uns in München sitzt die Leber rechts.«

Bücher gehen zur Zeit einigermaßen in Frankreich; seitdem man die Preise für Luxusausgaben um fünfzehn Prozent erhöht hat, sogar ausgezeichnet. Ob dieses Buch von Daudet ein Erfolg sein wird –? Ernst nehmen ihn nur seine Anhänger, und die werden nicht ernst genommen. Und ich kann mir auch nicht denken, dass man zwischen zwei Leitartikeln, vier Volksreden und acht Flugblättern, auf denen der neue Innenminister Malvy ein »Verräter« und »Malvy-Allemand« und, in Erinnerung an die Affäre Mata Hari: »Mata-Malvy« genannt wird – dass man da auch noch Zeit findet, die Theorie der Psychoanalyse zu widerlegen. Aber freilich: bei uns weiß ja im »Stahlhelm« jedes Kind, dass Einstein unrecht hat und dass Psychologie etwas Unwürdiges ist. Hinterpommern ist groß, und Träume der deutschen Fürsten sind niemals egoistisch.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 09.04.1926, Nr. 85, S. 1.